Drei Menschen im Interview live vor Ort

Extrapod 3

Spektrakulär – Extrapod 3: Gespräche auf der Bundestagung

„Es ist wie es ist“, sagt der Autist“

Erscheinungstermin: ab 09.04.2024, Autorin: Mirjam Rosentreter

Intro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.

Marco Tiede (Co-Host): Ja, Moin! Ich schon wieder, Marco, Co-Host von Spektrakulär. Also, ich als Co-Host darf nochmals ankündigen, Mirjam hat ja sehr vielfältige, zahlreiche Interviews am Rande Bundestagung, Autismus-Kongress Deutschland aufgenommen, und davon gibt’s jetzt hier noch einen Extrapod.

Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)

Atmo-O-Ton:(Eröffnungsvortrag von Jennifer Fromm) Hallo, Mitreisende auf unserem Mutterschiff Erde. Aktuell rauschen wir mit hundertsiebentausend Km/h durchs All…

Mirjam Rosentreter: (darüber sprechend) Im Fachjargon heißt die Rolle von Jennifer Fromm Keynote-Speakerin. Sie wurde gebucht, um das Publikum auf besondere Weise auf das Tagungsthema einzustimmen: Autismus – Bildung, Beruf Lebenszufriedenheit.

Atmo-O-Ton Mirjam: (teilweise unter dem Sprechertext) Wir machen eine Sonderfolge…

Mirjam: (darüber sprechend) Jennifer Fromm ist Physiklaborantin und Tischlerin. Sie weiß erst seit kurzem, dass sie Autistin ist. Die Diagnose erhielt sie mit 37 – nach zwei Jahren Suche und Wartezeit.

Atmo-O-Ton Jennifer Fromm (bevorzugt ihren Spitznamen Juna & das Du): (teilweise unter dem Sprechertext) Wie lange geht denn die Pause?

Mirjam: (darüber sprechend) Nach ihrem Vortrag ist sie spontan bereit zu einem kleinen Interview.

Interview

Mirjam:Bei dieser Bundestagung – also, ich hab gehört, es sind bis zu 1400 Menschen, die hier insgesamt zusammenkommen – waren jetzt in dem großen Saal viele Augen auf dich gerichtet. Was ging dir in dem Moment im Kopf vor, als du raufgegangen bist, die kleine Treppe zur Bühne hoch?

Jennifer Fromm/Juna:Hmmh…eigentlich nicht viel. Also, ich war einfach so darauf konzentriert, meine Füße vor einander zu setzen und die Treppe heile hoch zu kommen und zu diesem Pult. Und dann hab ich’s eingestellt. Also, ja, ich hab mich möglichst so an dem Text festgehalten. Und ja, danach dachte ich auch schon – meine Beine wurden so zu Pudding – das war echt gut, dass Frau Kaminski noch mal gesagt hat: Tief durchatmen!

Mirjam: Du hast in den Vortrag gesagt, dass Stärkung das entscheidende war für dich.

Juna: Bestärkung, ja. Eine Freundin, die auch Autistin ist und ADHS hat, hat mich bestärkt, endlich mal zu ner Therapie zu gehen. Und da wurde dann auch halt, also da wurde diagnostiziert, dass ich eben ADHS hab‘, letztes Jahr im Februar, und im Oktober dann: Autismus. Und ja: Bestärkung brauche ich wahrscheinlich auch mehr als durchschnittlich, weil ich zu tiefst unsicher bin bei allem Möglichen. Ich hab‘ halt als Kind keine Therapie gehabt oder irgendwie so, naja, Begleitung und jemand, der mir erklärt, was eigentlich mit mir los ist. Also, warum ich so sehr speziell bin und so wirklich schon grob anders, andere Verhaltensweisen zeige.  

Mirjam: Ist das für dich ne neue Situation, dass auf einmal die Leute interessiert, was du zu sagen hast?

Juna: Hmm, nicht unbedingt. Ich hatte auch immer mal Leute um mich – und hab Leute um mich – die sehr freundlich sind und die interessiert, was ich sage, eigentlich fast egal, wie ich‘s sage, und auch wenn ich ganz viel hin und her springe oder so. Und ja, dieser große Saal mit so vielen Menschen, das war für mich schon so abstrakt, so viel, dass das für mich einfach so ne bunte Masse war und gar nicht mehr so einzelne Personen. Und von daher war das für mich eigentlich so, ja, hab ich da so sehr nur mich wahrgenommen dann. Und dann ging das auch ganz gut. (Geschirrwagen poltert vorbei) Und einer kam auf mich zu und fragte: Physiklaborantin? Mit dem werde ich auch gerne weiterreden. Aber ich will auch kurz die Pause nutzen, um ein bisschen zu verschnaufen dann.

Mirjam: Während hier im Hintergrund Rollcontainer mit Geschirr und so drauf vorbeigefahren werden.

Juna: Ja, genau. Ich werd nochmal so die zehn Minuten in den Ruheraum, nochmal ein bisschen durchschnaufen und dann mir noch die Vorträge anhören.

Überleitung zum nächsten Gespräch

Atmo-O-Ton Fabian Hoff:(teilweise unter dem Sprechertext)Ich hab’nBuch geschriebenüber Autismus und Schulbegleitung…

Mirjam: (darüber sprechend) Während ich bei den Eröffnungsreden war, hat Marco uns am Messestand vertreten. Einige nutzen die Zeit der Vorträge und Workshops, um sich in Ruhe nach Büchern, Lernmaterialen und besonderen Spielsachen umzusehen.

O-Ton Gespräch Fabian (bevorzugt das Du), Marco und Mirjam (anfangs teilweise unter dem Sprechertext)

Fabian: Ich nutz das Eisbärmodell

Marco: Ahja…

Mirjam: (darüber sprechend) Mein Podcast-Kollege, der ja viele Jahre als Schulbegleiter gearbeitet hat, spricht gerade mit einem der Referenten zu diesem Thema.

O-Ton Gespräch

Fabian: Bei autistischen Menschen, also, insbesondere in der Schule ist das Problem: Kinder gehen in die Schule rein, ziehen vorher ihre Rüstung an und können die in der Schule auch nicht ausziehen. Das heißt, die haben in der Schule nur begrenzte Möglichkeit, wieder sich zu regenerieren. Da geht’s dann zum Beispiel darum, dass man als Schulbegleitung da auch, wenn gewisse Sachen passiert sind, den Schultag einfach abbrechen muss, weil es nicht möglich ist…

Marco: Meinst du mit Rüstung auch Maskierung? Oder ist das noch was anderes für dich?

Fabian: Ja, ja, nee.

Marco: Also auch Maskierung, hmmh.

Fabian: Ja, also, die meisten Kinder gehen morgens in die Schule und machen immer… (deutet körperlich an, etwas überzuziehen) auf irgendeine Art und Weise. Die haben ne innere Anspannung, weil die jetzt performen müssen, (Marco: Ja) weil die nach außen darstellen müssen. Und solange die in dem Raum Schule sind, kommen die da auch nicht so 100-prozentig raus. Das heißt…

Marco: Stimmt, das habe ich als Schulbegleiter auch so erlebt.

Fabian: Ja. Das heißt, solange wir uns im Raum Schule bewegen, ist es schwer, dass die Kinder sich wieder entspannen können, wenn die einen Overload erlebt haben oder einen Meltdown. So, und das versuche ich alles mit diesem Modell so ein bisschen zu verbildlichen.

Mirjam: Ich hab gerade ein bisschen aufgenommen. Ich hoffe das ist okay? Weil ich das Mikro schon in der Hand hatte (lacht). Wäre es okay für dich, wenn du da drin vorkommst mit deiner Stimme?

Fabian: Ja.

Mirjam: Dann wär’s toll: Wie würdest du dich vorstellen?

Fabian: Also, ich bin Fabian Hoff. Ich arbeite derzeit als Klassenassistent in der Schweiz. Aber ich bin halt eben auch Dozent.

Mirjam: Kommst du aus der Schweiz?

Fabian: Nee, ich komm ursprünglich aus dem Ruhrgebiet. Biete ne Fortbildung an zum Thema Autismus und Schulbegleitung und eine zum Thema Autismus und Arbeit. (Marco: Ja) Und mach auch noch so Vorträge, ich hab einen Vortrag über autistische Innenperspektive, ich sag mal so: Der Klassiker (lacht). Und ich habe ein Buch auch zum Thema Autismus und Schulbegleitung veröffentlicht.

Mirjam: Und wie würdest du dich bezeichnen als Mensch im Spektrum, also wie…

Fabian:  Autist. Ich bin Autist.

Marco: Das ist immer diese spannende Frage. Ich geb‘ auch Fortbildungen, und ich sprech‘ auch meistens selbstverständlich über Autisten und Autistinnen. Und dann fragen dann manche: Ist das denn eigentlich politisch korrekt hier einfach als ‚Autisten‘ zu bezeichnen? Und dann sage ich: Ja wie denn sonst?Mensch mit Autismus‘ wär irgendwie schräg. Oder? Ich weiß nicht, wie du das siehst? Es gibt ja dann immer dieses ‚Mensch mit Autismus‘ oder ‚Mensch im Spektrum‘ oder whatever. Oder ist das auch so variabel und jeder nach seinem Gutdünken?

Fabian: Also, ich benutz regelmäßig die Formulierung, ‚Mensch‘ oder ‚Person mit Autismus‘, weil, dann kann man sich das Gendern sparen. Also…

Marco: Ja, ja.

Fabian: Deshalb greife ich dann schon manchmal auf die Formulierung ‚Menschen mit Autismus‘ oder ‚Personen mit Autismus‘ zurück. Aber ich finde zum Beispiel, ich mag das überhaupt nicht dieses: Man sagt jetzt ‚Mensch mit Behinderung‘ statt ‚Behinderter‘. Weil, also für mich ist ‚behindert sein‘ eigentlich sprachlich genau richtig, weil, es ist ja eine Passivkonstruktion. Wenn ich sage, ‚jemand ist behindert‘ mache ich eigentlich gar keine Aussage über die Person, sondern eine Aussage über das Umfeld.

Marco: Stimmt.

Fabian: Und genau dahin fällt das für meine Begriffe auch hin. Und deshalb find ich den Begriff ‚jemand ist behindert‘ auch total in Ordnung. Ich hab damit kein Problem, als ‚behindert‘ zu bezeichnen, und ich spreche auch so. Und ich hab’s aber auch schon erlebt, dass nicht behinderte Menschen mir erzählen wollen, dass ich das anders sagen muss. (schnalzt) Ich versuch dann immer, das erst mal diplomatisch zu sagen.
Ich sag das auch immer, wenn ich zum Beispiel meine Vorträge mache. Ich sag immer am Anfang: Sprechen Sie so, wie Ihnen die Schnauze gewachsen ist. Ich steh ja mit Absicht hier oben, ich kann damit schon umgehen. Und vor kurzem war ich an ner Hochschule, da gab’s einen Tag der Begegnung – also, es ist ne Hochschule mit pädagogischem Schwerpunkt. Und da war dann zum Beispiel auch eine blinde Person da. Also, die haben verschiedene Menschen mit Behinderung eingeladen, damit die Studenten und Studentinnen die kennen lernen können. Und da war eine blinde Person, die benutzt einen Braille-Reader im Internet (Marco: Ja). So. Und solche Leute kriegen einfach Schwierigkeiten mit irgendwelchen Unterstrichen oder sowas, weil die Geräte da nicht sauber funktionieren. Und das ist mir natürlich auch ein Anliegen.

Marco: Ja klar. Also, dann wird’s ja auch im Schriftlichen ne Sprachbarriere.

Mirjam: Ich möchte gerne uns drei in unserer Interviewsituation fotografieren lassen. (Fabian lacht) Ähm, und bitte mal…

Marco: Vielleicht Jutta?

Mirjam: Jutta! Kannst du von uns, in unserer Interviewsituation ein paar Fotos machen? Bitte scharf stellen! (Marco lacht). Denn vorhin haben wir Fotos gemacht (Fabian brummt zustimmend) – wir müssen da gar nicht hingucken.

Fabian: Ach so, ja.

Marco: Einfach weiterreden.

Mirjam: Naja, wir haben vorhin Fotos gemacht…

Marco: Soll ja nicht gestellt sein (lacht).

Mirjam: Nein, wir wollen einfach weiterreden. Wir haben vorhin schon Fotos gemacht, und die sind ganz unscharf geworden. Oh, Dankeschön! Ich hab auch einen Fragenkatalog eigentlich, mit 11 „spektrakulären“ Fragen vorbereitet (Marco kichert), weil wir hier der Stand Nummer 11 sind.

Fabian: Okay, ja cool! (kichert)

Mirjam: Ich stell dir einfach nur die wichtigste Frage ganz am Schluss: Wie machen wir die Welt für alle autismusfreundlicher?

Fabian: (denkt lange nach) Also …, ich glaube, … grundsätzlich … Vorurteile abbauen. Also, ich weiß gar nicht, ob das unbedingt …, also, ich weiß nicht, ob es ein berechtigtes Anliegen ist, die Welt auf 1 Prozent ihrer Bevölkerung irgendwie hin auszurichten. Sondern ich fänd‘s spannender, die Welt so zu machen, dass die ganzen 100 Prozent alle besser zurechtkommen. Weil ich das auch immer wieder bei NTs (Abk. f. Neurotypiker) erlebe, dass die halt auch irgendwelche Querks haben, die die irgendwie verstecken und so. Also ja, grundsätzlich einfach, äh, würde ich mir wünschen: Mehr Offenheit dafür, wenn jemand … vom normalen Verhaltens-Repertoire, was man so erwartet, abweicht. Vielleicht erst mal innehalten und fragen: Was passiert denn da gerade? Warum macht er das denn? (Marco: Ja) Und nicht direkt irgendwie mit Angst oder Abkehr oder so reagieren. Sondern erst mal gucken: So, was passiert denn hier gerade? Und ein bisschen offener dafür zu sein, gewohnte Denkbahnen auch noch mal zu verlassen in gewissen Situationen.

Mirjam: Vielen Dank.

Marco: Ja, kann ich mich nur anschließen. Danke, ja.

Fabian: Gerne.

Marco: Ich find’s auch gut, nä, dieses: Es geht um die 100 Prozent. Und sich verstehen zu wollen, nachzufragen. Und nicht gleich Urteile zu fällen. Weil, das passiert oft viel zu schnell, dass Urteile gefällt werden.

Fabian: Also, es gibt da so ne Broschüre von … ähm, bin mir nicht sicher, ob‘s Sachsen-Anhalt oder Sachsen ist, von der Bildungsministerin. Da geht’s auch um Inklusion. Und da schreibt sie: Ja, Inklusion schön und gut, aber, jemand der farbenblind ist, muss ja nicht unbedingt Elektriker werden, und jemand, der Legasthenie hat, muss ja nicht unbedingt Sekretärin werden. So, und die blinde Person, von der ich eben erzählt hatte, die ist Lektorin! … So. Von daher: Bitte einfach mal gewisse Denkmuster (Marco brummt zustimmend) beiseitelegen und gucken: Wofür interessiert die Person sich? Weil, also warum soll jemand bloß weil er blind ist, irgendwie keinen Zugang zur Sprache haben? (Blöken im Hintergrund) Das ist … in der Vorstellungswelt der Nichtbehinderten so.

Atmo-O-Ton Gast am Stand: Ich komm nur mal daher und nehm so ne Broschüre mit – Ja, gern (Blöken im Hintergrund) – Danke (Blöken im Hintergrund)

Marco: Ach, das ist das Schaf, das da drüben Geräusche macht. So: Määäh!

Mirjam: (lacht) Ein Schaf zum Beruhigen.

Marco: Vielleicht?

Mirjam: Ein Kuschelschaf.

Marco: Eine Art elektrisches Schaf. Hier, bei der Frau auf dem Arm.

Fabian: Ja. Nee aber, man kann sich hier ja viel besser bewegen, wenn die Pause vorbei ist.

Marco: Stimmt.

Fabian: Also, als Autist zumindest (lacht).

Marco: Absolut. Ja, cool.

Mirjam: Vielen Dank!

Überleitung

Atmo Vortragsaal

Mirjam: (darüber sprechend) Am zweiten Tagungstag besuche ich unter anderem einen Vortrag des Autismus- und Neurodiversitätsforschers André Frank Zimpel.

Atmo-O-Ton Vortrag André Frank Zimpel: Man merkt, wir müssen über Intelligenz neu nachdenken. Und das machen wir auch im Zentrum für Neurodiversitätsforschung. Es gibt wichtigeres als Intelligenz. Das zeigt die Hattie-Studie. Hattie hat 200 Millionen Schüler und Schülerinnen auf den Bildungserfolg untersucht und hat festgestellt: Intelligenz ist ganz schön, ist aber Platz 2. Platz 1 ist: Selbsteinschätzung. Und ich merke das. Menschen, neurodivergente Menschen, Menschen im Autismus-Spektrum, die sehr viel Wissen über sich haben und das artikulieren oder in irgendeiner Form mitteilen können, das sind die, die am erfolgreichsten an einer Universität klarkommen.

Überleitung zum nächsten Gespräch

Atmo-O-Ton (Gemurmel und loungige Pausenmusik im Vortragsaal)

Mirjam: (darüber sprechend) Gerade haben wir noch gehört, wie wichtig es für Menschen im Spektrum ist, sich mit dem eigenen Potenzial und den individuellen Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, da komme ich im Saal mit einem Autor ins Gespräch. Holger Pohl zeigt mir das Kinderbuch, das er herausgebracht hat: Falscher Planet – wie Autisten die Welt erleben.

O-Ton Gespräch (Holger Nils Pohl, Anja Schumann und Mirjam Rosentreter)

Holger Nils Pohl: (teilweise unter dem Sprechertext) …das ist wirklich ne viel niederschwelligere Geschichte (Schumann: Okay) über ein Alien, was sich anpassen kann (Schumann: Ja) aber nie so richtig reinpasst.In Reimformgeschrieben, zehn Minuten zu lesen, wirklich über die Geschichte zu erzählen, was es bedeutet anders zu sein, dass es okay ist, anders zu sein. Und kommt sehr gut an.

Mirjam: (darüber sprechend) Der Vater hat erst durch die Diagnosen bei seinem Sohn und bei seiner Tochter begriffen, dass er selbst Autist ist. Eine Frau neben uns wird neugierig. Sie arbeitet in einer Kita, erzählt sie uns.

Anja Schumann: Hat sich das Leben viel verändert?

Pohl: Komplett.

Schumann: Hmmh.

Pohl: Ja, also, es ist auch noch nicht abgeschlossen.

Schumann: Nee, natürlich nicht. Ich hab letztens gehört, dass man, wenn man Elternteil eines autistischen Kindes ist, es immer sein wird, so oder so, dass es immer Herausforderungen geben wird, und es wird nie, niemals aufhören. Eltern ist man ja sowieso immer, davon mal abgesehen, egal ob neurotypisch oder nicht.

Pohl: Ja, und eben, ich hab‘ halt vierzig Jahre – also ich bin jetzt 43 – ich hab mit vierzig erfahren, dass ich Autist bin, meine Frau dementsprechend hat das auch mit vierzig erst erfahren, dass ich Autist bin. Und auch das also macht… einfach auf Beziehungsebene verändert das sehr viel, weil man viele Dinge auch jetzt weiß, die sich nie ändern werden, wo sie vielleicht die Hoffnung hatte, dass es sich irgendwann mal ändert. Und eben, je älter die Kinder werden, desto stärker tritt es auch nach außen, nä? Also, desto merkt… also es sind beides Asperger, also auf diesem sogenannten hochfunktionalen Bereich, aber je älter die werden, desto stärker kommt es im Prinzip raus. Und je mehr wir auch am Bewusstsein arbeiten, desto stärker…. ja, ist schon viel, viel drumherum zu tun.

Schumann: Aber es erklärt auch wahrscheinlich bei Ihnen ziemlich viel in der Vergangenheit?

Pohl: Defintiv, definitiv.

Schumann: Hmmmh.

Pohl: Aber es ist halt einmal, als wenn man seine Identität kurz verliert, und dann muss man die wieder neu aufbauen. Das war schon ein harter Schlag.

Schumann: Das glaube ich.

Pohl: Ja.

Schumann: Und warum kam’s erst jetzt raus? Und nicht schon vor zehn, fünfzehn…

Pohl: Durch die Tochter. Also die Tochter ist schlecht geworden in der Schule und musste dann, war dann bei Psychologen im Test, weil die war wirklich von ner Zweierschülerin auf ne Vierer-, Fünferschülerin. Und da haben wir die testen lassen, und dann kam eben die Anfrage, ob das nicht Autismus sei. Und dann lief die Diagnose, und dann hab ich mich mit dem Thema mehr beschäftigt und dann gesagt: Hallo! Das bin dann wohl ich (lacht). (Schumann: Ja) Da habe ich vorher nie drüber nachgedacht.

Schumann: Nee, warum auch? Also, wenn’s da keine Begegnungen…

Pohl: Ich bin immer durchgerutscht. Und, wie gesagt, auf Beziehungsebene konnte man’s auch nicht sehen,  weil, wir sind unsere beiden gegenseitigen ersten Partner meine Frau und ich. Also, es gab nie ne Frage, dass irgendwas anders, komisch ist. Ja.

Mirjam: Haben wir hier grad ne außergewöhnliche Situation, oder?

Schumann: (lacht) Ja, haben wir! Definitiv!

Mirjam: Also, auch für mich. Ich brauch gar nichts zu fragen, das Gespräch spricht sich von selber zwischen zwei Leuten, die sich auf der Tagung begegnen vor einem Lautsprecher, der die Zwischenmusik bringt. Und trotzdem sind wir voll elektrisiert (lacht).

Schumann: Definitiv! (lacht)

Pohl: Ja, ja. Ja, das ist schon…. Ich sag mal: Es ist ja auch alles, so wie es ist, ist es gut so, ne? Also, ich würd‘ auch nicht wollen, dass ich das in Kindheitstagen schon gewusst hätte, weil, dann wäre ich auch nicht da, wo ich jetzt bin, hätte mir auch wahrscheinlich viel nicht zugetraut. Ich bin selbstständig, Alleinverdiener für unsere ganze Familie, wenn ich das als Kind gewusst hätte,  weiß ich nicht, ob ich das Selbstbewusstsein gehabt hätte, bis hierhin zu kommen, wo ich jetzt bin.

Schumann: Also war es gut?

Pohl: Naja, es ist so, wie es ist, ne? Weder gut noch schlecht. Es ist halt, wie es ist. Und ähm…

Mirjam: Erich Fried.

Pohl: Ja!

Mirjam: Es ist wie es ist.

Pohl: (lacht) Ja: Es ist wie es ist!

Mirjam: …sagt die Liebe.

Pohl: Aber, es ist halt ein superanstrengender Prozess. Jetzt das Leben danach umzugestalten. Weil man merkt, sowohl für mich ist es nicht gut, sowohl für meine Frau ist es nicht gut, für die Kinder nicht, nä? Also, ein neurotypisches Leben zu führen. Und diese… diese Veränderung, die kostet unglaublich viel Kraft, unglaublich viel Kraft.

Schumann: Man geht auch ganz anders damit um auf einmal, ja.

Pohl: Und egal, wo man hinguckt, überall sieht man’s, nä? Beim Essen, beim Reden, Dada dada – überall!

Schumann: Man guckt anders drauf auf das Ganze, ja.

Pohl: In der Schule – überall. Überall. Und das macht es halt extrem anstrengend. Deshalb sag ich immer: Das Bewusstsein, oder er sagte (André Frank Zimpel im Vortrag) die Aufmerksamkeit und die Selbsteinschätzung, das hilft zwar, macht es aber auch schwerer. Manchmal ist es auch gut, einfach nur stumpf durch die Gegend zu laufen und es nicht zu wissen.

Schumann: Weil man dann nicht so viel verändern muss. Ja, wahrscheinlich, wahrscheinlich. Ich find’s ja ganz spannend, dass auf der Tagung relativ vie… oder einige sind, die im Spektrum leben, und von denen die Erfahrungen zu hören, wie man damit besser umgehen kann, beziehungsweise, was sie brauchen oder nicht brauchen, das finde ich total spannend. (Pohl: Ja) Ich fand gestern Jennifer Fromm, ihre Ansprache, ihre Grußworte – ich hatte Gänsehaut. Ich hatte totale Gänsehaut.

Mirjam: Ging mir auch so.

Schumann: Es warsehr, sehr beeindruckend, muss ich sagen.

Pohl: Ja, ja. Stimmt. Undauch heuteer (André Frank Zimpel), nä? Also, ich find diese Aussage: Es wird viel zu oft nach so nem Katalog gesucht. Grad mit unseren Kindern haben wir immer wieder diese Herausforderungen, den Lehrern auch zu erklären: Das hilft dem Kind nicht! Nä? Oder, wir hatten jetzt gerade wieder – wird jetzt noch lauter die Musik – wir hatten aber jetzt gerade die Situation, unser Sohn darf halt immer die Pausen verlängern, das heißt, er ist immer länger in der Pause und hat damit weniger Unterricht. Und das läuft sehr gut, und er hat sehr gute Noten. Und dann sagt sie Sozialpädagogen zu ihm: Ach, das klappt doch gut, nä? Die Pause, die können wir doch jetzt streichen! Genau das ist es: Nein! Die darf man nicht streichen! Weil, sobald wir die streichen, geht’s den Bach runter. Es ist eben nicht… ein Nachteilsausgleich ist nicht irgendwann abgeschlossen. Es ist immer wieder dann, immer wieder erklären und immer… es ist halt extrem.

Mirjam: Jetzt kommt der nächste Redner. Professor Vogeley mit der Cola in der Hand, geht der zum Pult. Ich glaube, der hat was vor.

Schumann: Äh: Dankeschön!

Mirjam: Ja, Dankeschön.

Pohl: Danke auch.

Mirjam: Ich bedanke mich, dass ich zuhören durfte.

Schumann: Ja, ich finde das total spannend. Ich fand’s wirklich sehr, sehr spannend und bereichernd.

Mirjam: Hmmh. Und Sie haben selber noch nicht viel Wissen über Autismus?

Schumann: Bei mir hat das angefangen vor überhaupt nem halben, dreiviertel Jahr, als Wochenendrebellen (Film „Die Wochenendrebellen“) rauskam. Beziehungsweise, wir haben bei uns in der Kita einige Kinder, die im Spektrum sind.

Mirjam: Ist doch toll, dass dann – also, das ist ja wahrscheinlich genau das Ziel von dem Vater und Sohn, die hinter den Wochenendrebellen stehen – also, dass die Medien oder Filme, dass die das dann auslösen, dass Sie sich jetzt tiefer damit beschäftigen.

Schumann: Ja! Auf jeden Fall.

Mirjam: Ist natürlich auch unser Ziel.

Schumann: Ja, glaube ich.

Mirjam: Mit unserem Podcast.

Schumann: Ja, das glaube ich, das glaube ich gern, ja.

Mirjam: Haben Sie mir ne Karte gegeben? (Schumann lacht) Oder Sie können auch einfach sagen, wie Sie heißen, dann brauche ich das gar nicht aufzuschreiben.

Schumann: Ich bin Anja Schumann, komme aus Berlin, arbeite in einer Kita als Pädagogin, und habe einige Berührungspunkte im privaten Bereich mit Menschen mit Autismus, beziehungsweise auf der Arbeit, wo wir Kinder im Spektrum haben.

Atmo-O-Ton Vortragsankündigung im Saal, Stimmengemurmel in der Halle

Überleitung zum letzten Gespräch

Mirjam: (darüber sprechend) Am letzten Tagungstag bin ich noch einmal mit Bianca Bräulich verabredet. Sie war ja in unserer ersten Podcast-Folge zu Gast. Heute will sie zum Abschluss die elf Fragen beantworten, die wir an unserem Stand ausgelegt haben. In einer versteckten Lagerecke finden wir die nötige Ruhe für Biancas persönliches Resümee.

O-Ton Gespräch Bianca Bräulich und Mirjam

Mirjam:Herzlich willkommen zum Blitzinterview in der Schmuddelecke der Ausstellungshalle, wo das Toilettenpapier gelagert wird.
Wo ist dir Autismus zum ersten Mal im Leben begegnet?

Bianca Bräulich: (lacht) So ganz persönlich? (lacht) Bei meiner Geburt.

Mirjam: Was macht Autismus für dich persönlich aus?

Bianca: Autismus macht für mich persönlich aus, dass ich in vielen Bereichen des Lebens ganz andere Verarbeitungs-Strukturen habe als andere Menschen, was dann positive und auch negative Faktoren mit sich bringt.

Mirjam: Wie erklärst du Leuten, die Autismus nicht kennen, kurz und verständlich, was es ist?

Bianca: Eine Wahrnehmungs-Verarbeitungs-Störung ist immer meine Einführung.

Mirjam: Wie finden autistische und nicht autistische Menschen gut zueinander?

Bianca: Indem man verständnisvoll aufeinander zugeht, sich darauf einlässt, dass der Andere, das Gegenüber vielleicht ein bisschen anders ist und reagiert, als man selbst und erst mal alles Verhalten, was man beobachtet, als sinnvoll erachtet und anerkennt.

Mirjam: Jetzt muss ich kurz meine Zettel hier auf dem Toilettenpapier-Haufen ablegen, weil ich die zweite Seite brauche. (Blättern) Was hast du zuletzt gemeinsam mit Leuten hier auf der Tagung über Autismus Neues gelernt?

Bianca: Tatsächlich habe ich neu gelernt, dass im Schulkontext alles nach wie vor drunter und drüber geht. Also, es ist für mich keine neue Info, aber die neue Info daran war, dass sich daran in naher Zukunft jetzt aus meiner Sicht bedauerlicherweise wohl nichts ändern wird.

Mirjam: Doch! Du kannst das Ganze jetzt ins Positive drehen: Was ist dir wichtig, ist meine Frage Nummer sieben: Was ist dir wichtig, was das Umfeld – und jetzt speziell in der Bildung – noch begreifen sollte?

Bianca: Das Beziehungsaufbau und Bindung zentrale Punkte sind, was, äh, was Dialektik angeht, was Lernen angeht, was, ähm, was Didaktik angeht und was Pädagogik angeht. Das ist das Wichtigste: Menschen, egal ob autistisch oder nicht, lernen durch Beziehung, durch Bindung, durch Orientierung an ihrem Umfeld.

Mirjam: Was kann jeder tun, damit der Alltag leicht und angenehm läuft?

Bianca: Oh, ich glaube, wir sollten das nicht erwarten! Der Alltag muss auch mal anstrengend und hart sein. So entwickelt man sich.

Mirjam: Was würdest du deinem jüngeren Ich gerne sagen, wenn das jetzt gerade möglich wär?

Bianca: Halte durch, es lohnt sich, du machst das schon!

Mirjam: Die zehnte, vorletzte Frage – in unserem Podcast, aber oft die Abschlussfrage und unser Leitgedanke: Was wünscht du dir von der Welt?

Bianca: Ich wünsche mir gegenseitiges Verständnis und dass auch, wenn es Widersprüche und Reibungspunkte gibt, man daran gemeinsam wächst.

Mirjam: Und jetzt der zweite Teil dieser zentralen Frage von uns – hier in Frage elf, äh, formuliert: Wie machen wir das Leben für alle autismusfreundlicher?

Bianca: Indem wir klare Strukturen schaffen, uns verschiedene Wege der Kommunikation aneignen und diese auch im Alltag verwenden und einfach aufeinander achten, darauf, was der andere gerade braucht.

Outro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Das war Spektakulär – Eltern erkunden Autismus

Mirjam: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Club Bremen.

Musik-Ende

Sprecher: Gefördert durch die Aktion Mensch

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