Junger Mann vor Bücherwand und hinter Mikrofon.

Folge 2

Man kann sich durchaus ins Burnout maskieren“

Martin Koliwer – Student der Kulturwissenschaften und Autist

erschienen am 16.01.2024 auf www.spektrakulaer.de

Autorin: Mirjam Rosentreter

Intro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher:Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter (Moderatorin/Host 1): Hallo! Herzlich willkommen zum neuen Podcast des Autismus-Elternkreises im Martinsclub Bremen. Mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus Spektrum, und ich mach das hier nicht alleine: Bei mir ist Marco Tiede.

Marco Tiede (Co-Moderator/Co-Host): Ja, Moin! Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum, und ich arbeite Therapeut und auch als Berater.

Mirjam Rosentreter: Erkunde zusammen mit uns Autismus in all seinen Facetten.

Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)

Sprecherin: Heute mit Martin Koliwer – Student Kulturwissenschaften, Autist.

Einstieg

Mirjam Rosentreter (Moderatorin/Host 1): Hallo, herzlich willkommen zu unserer zweiten Folge unseres Podcast. Wir haben heute Martin Koliwer zu Gast. Als ich ein Vorbereitungs-Telefonat mit dir geführt habe, Martin, meintest du, ich würde mit euch gerne über Masking sprechen, also das autistische Maskieren.

Martin Koliwer (Gast): Ja, gerne. Erstmal Hallo! (lacht)

Mirjam Rosentreter: Ja, erstmal Hallo!

Marco Tiede (Co-Moderator/Co-Host): Ja, Hallo auch von mir.

Mirjam Rosentreter: (lacht)

Marco Tiede: Ich bin grad schon über den Begriff ‚autistisches Masking‘ etwas gestolpert. Weil, das Masking ist ja schon weit verbreitet in der gesamten Menschheit.

Mirjam Rosentreter: Hmm.

Martin Koliwer: Ja

Marco Tiede:  Nur, dass es für die Menschen im Autismus-Spektrum doch noch mal etwas anderes bedeutet. Aber das ist ja heute auch Thema.

Mirjam Rosentreter: Da werden wir, glaube ich, ganz ausführlich zu sprechen können, ja. Martin – also, ähm, um so ein bisschen szenisch einzusteigen – als wir uns das letzte Mal mit der Elternrunde getroffen haben, haben Marco und ich dieses Thema mit reingegeben und haben gesagt: Also, wenn ihr Lust habt und da aktuell irgendwie Fragen zu habt oder Erfahrung, dann sagt uns das gern. Mal gucken, ob du dich da irgendwo wiedersiehst. Also, eine Mutter meinte über ihr Kindergartenkind: „Keiner merkt ihr den Autismus an. Keiner sieht den Förderbedarf.“ 

Martin Koliwer: Das ist definitiv ein Faktor, ja. Also gerade bei Asperger-Autismus zum Beispiel ist es ja durchaus so, dass man – (atmet schwer) man passt sich an, versucht eben nicht aufzufallen. Man fügt sich, man versucht sich so gut einzufügen, wie man kann. Und das gelingt häufig auch nach außen hin, und dabei kommt natürlich nicht mit rüber, wie viel Energie das tatsächlich kostet, so zu wirken, als wäre halt nichts anders als bei anderen.   

Mirjam Rosentreter: Und dann nehme ich noch eins über ein Grundschulkind: „Er will unterm Radar mitschwimmen, eckt aber überall an.“

Martin Koliwer: Auch das passiert. Vor allem eben in Gruppen, die man nicht gut kennt oder wo man das einfach noch nicht gelernt hat, wie die Gruppendynamiken funktionieren. Weil, so wie ein – ich sehe das ja immer nur aus der asperger-autistischen Perspektive – aber, ich nehme einfach mal an, wenn ein Neurotypiker in eine neue Gruppe gerät, dann fügt er sich relativ schnell in die Gruppe ein, weil er sich relativ schnell über die Dynamik innerhalb dieser Gruppe bewusstwird und diese übernimmt, oder halt eben nicht. Und ein Asperger-Autist hat da einen deutlich längeren Prozess hinter. Und, ähm, dieses Erlernen ist halt auch ein sehr bewusster Prozess. Das heißt, ich – in einer Gruppe setz ich mich nicht hin und nehme einfach die Gegebenheiten in der Gruppe an, sondern ich muss tatsächlich aktiv aufpassen: Wie funktioniert diese Gruppe? Und mich dann bewusst da drin einfügen. Also, das kommt durchaus auch vor. Das ist eben auch das, womit wir den Bogen zur ersten Frage geschlagen haben, was dann so wahnsinnig viel Energie kostet.   

Mirjam Rosentreter:  Das sind alles Themen, Energie und was du da alles beachten musst, über die wir heute sprechen können. Ich will jetzt aber noch einmal einen Schritt zurück, dass wir dich hier noch ankommen lassen…

Martin Koliwer: (schmunzelt)

Mirjam Rosentreter:…Denn wir haben schon etwas länger auf dich gewartet. Du hast den Termin beinahe vergessen – das müssen wir jetzt mal verraten – ähm, Marco guckt ganz skeptisch?

Martin Koliwer: Tut mir leid.

Mirjam Rosentreter: (lacht) Dazu noch ein Hinweis: Martin hat sich verspätet, weil du nachher einen wichtigen Termin hast, nämlich ne Wohnungsübergabe! Also: Umzug! Der Gipfel der Überforderung! Also, es ist – ich hab nur Verständnis dafür, dass du, ähm, dass du das Gespräch heute Morgen nicht mehr so ganz auf dem Zettel hattest.

Martin Koliwer: Tut mir einfach leid.

Mirjam Rosentreter: Als du jetzt hier reingekommen bist. Hast du’s noch geschafft, dir ne Maske aufzusetzen? Sitz hier Martin, so wie er fünf Minuten vorher noch drauf war, oder ist das jetzt ein anderer Martin, der vor mir sitzt? 

Martin Koliwer: Äh, Ich bin momentan vor allem im Gesprächsmodus. Das heißt, ich kann (atmet schwer aus),konzentriere mich momentan stark drauf, dass ich ein flüssiges Gespräch mit euch führen kann, dass ich hier halt auf euch zu, auf euch reagieren kann. Und, ähm (seufzt), ein Stück weit ist Masking immer dabei, wenn soziale Interaktion stattfindet – das ist ja durchaus soziale Interaktion, also ist auch hier ein Stück weit Masking dabei – aber das ist ja durchaus bei jedem Menschen der Fall. Also, von daher, bin ich mir jetzt nicht ganz sicher, wie ich die Frage beantworten soll. 

Mirjam Rosentreter: Du hast gesagt, ich versuch mich zu konzentrieren. Was musst du denn dann ausblenden, um dich besser konzentrieren zu können, gibt’s da was, was du ausblendest oder irgendwie so beiseiteschiebst?

Martin Koliwer: Nein, es geht nicht ums Ausblenden. Es geht ums Im-Gedächtnis-Behalten. Das heißt, ähm, wenn wir (atmet schwer aus) – genau das ist ja der Punkt! Wenn ich mit jemandem spreche, dann maske ich, indem ich versuche, mir im Gedächtnis zu behalten: Was erwartet diese andere Person von mir? In was für einer Situation befinde ich mich? Was ist das Thema der Unterhaltung? Wie sollte ich mich verhalten? Ist es wichtig, Augenkontakt zu halten? Ist es wichtig, irgendwelche anderen sozialen Normen zu treffen oder Ähnliches? Und das sind Dinge, die ich dann neben der Unterhaltung nebenher bewusst im Gedächtnis behalten muss. Dinge, die halt bei anderen – nehme ich zumindest an – automatisch laufen.

Marco Tiede: Also, so diese üblichen neurotypischen Standards, Wechselseitigkeit, gelegentlicher Blickkontakt etcetera…

Martin Koliwer: Ja, genau.

Marco Tiede: …Immer auf dem Plan zu haben. Während es vielleicht anderswo durchaus ein bisschen länger dauern kann, mit ein paar mehr Gesprächspausen, weil man sich bisschen sammelt und dies das, ist es jetzt sehr fokussiert auf den Gesprächsfluss und die Wechselseitigkeit, wenn ich das so richtig verstanden habe, ne?  

Martin Koliwer: Genau. Und das ist halt bei euch eben inzwischen ein bisschen einfacher als bei vielen anderen, einfach deswegen, weil ich euch schon kenne.

Marco Tiede: Hmm.

Mirjam Rosentreter: Hmm.

Martin Koliwer: Das heißt, dass es da – logischerweise kann ich aus den Erfahrungen von den letzten Unterhaltungen treffen, äh, schöpfen, und Marco kenne ich ja schon ziemlich lange – und, ähm, dementsprechend fällt es mir da jetzt ein bisschen leichter. Und in Situationen, wo ich wirklich niemanden im Raum kenne, fällt‘s mir dann entsprechend ein bisschen schwerer.

Marco Tiede: Ich wollte nur mal kurz, ich weiß gar nicht, ob wir schon mal den Begriff des Neurotypikers geklärt hatten?

Mirjam Rosentreter: Ja, mach das gerne mal.

Marco Tiede: Also, wenn wir ‚Neurotypiker‘ benutzen: ‚neurotypisch, Neurotypiker‘ ist eigentlich nichts anderes als die nicht autistische Menschheit, die irgendwie im Spektrum ganz woanders ist. Aber, ich kann vielleicht noch mal ergänzen zu deinen Schilderungen, wenn es darum geht, diese Codes zu durchschauen, ne, so von den neurotypischen Menschen, die irgendwie selbstverständlich wissen, was da zu tun ist. Das hatte auch mal eine Autistin auf einer Tagung recht eindeutig geschildert. Die hatte ungefähr so gesagt, ähm: „Die anderen scheinen das irgendwie alles im Blindflug, so in so nem Autopiloten-Modus zu realisieren, was jetzt irgendwie wie dran sein kann, wie sich die Gruppen, die in verschiedenen Interessen, Interessen-Gruppen – also, keine Ahnung, die einen sprechen vielleicht über ne Serie, die sie gestern gesehen haben, die anderen über Fußball und was sich da so findet thematisch. Und wie du das grad schon sagtest, Martin, du stehst erstmal da und checkst erst mal auch die ganze Raumsituation und, äh, wie komme ich jetzt in ein Gespräch rein. Das ist dann nicht so selbstverständlich, wie du schon sagtest, das ist dann großer, hoher kognitiver Aufwand. Der auch Energie verbraucht.

Martin Koliwer: Ja.

Marco Tiede: Weil, wie wir wissen: das Gehirn verbraucht einfach mal sehr viel Energie.

Martin Koliwer: Ja. Und gerade zu deinem Gespräch-Finden in einem Raum – also, ein klassisches Beispiel, was ich ganz gerne dabei gebe, auch was für viele Eltern interessant sein könnte, ist eben in der Schule zum Beispiel die Gruppenarbeit. Wenn dann vom Lehrer die Anweisung kommt, tut euch in Gruppen zusammen und bearbeitet diese Aufgabe. Dann, ähm, gucke ich erst mal in einen Raum voller Gesichter und habe absolut keinen Anhaltspunkt, wer Interesse daran hat, mit mir jetzt eine Gruppenarbeit zu machen oder wer für mich ein sinnvoller Gruppenpartner wäre. Und, ähm, das sind Situationen, die sind dann durchaus schwierig (schmunzelt).

Marco Tiede: Hmm. Ja, das hab ich in Schule auch öfter erlebt. Also, dass die Kinder dann in dem Fall ziemlich lost gewesen wären, wenn sie nicht das Glück hätten, einen Schulbegleiter zu haben, der dann ein bisschen vermittelt. Aber ohne Schulbegleiter, ne…

Martin Koliwer: Genau.

Marco Tiede: …ist es dann schwierig. Und im schlimmsten Fall, wenn die Schüler, Schülerinnen aufgefordert werden, sich selbst Partner zu suchen, und dann finden sich alle, und irgendwann bleibst nur du allein übrig und denkst so: Okay? Und jetzt?

Martin Koliwer: Also, es ist auch durchaus vorgekommen, dass ich in der Schule Gruppenarbeiten dann letztlich alleine erledigt habe, was mir tatsächlich häufig angenehmer war, als wenn ich mich in einer Gruppe habe einfügen müssen…

Marco Tiede: Hmm.

Martin Koliwer: Einfach, weil, zum einen bleibt einem dann der Aufwand erspart, tatsächlich eine Gruppe zu finden, aber auch wenn man Gruppe gefunden hat, ähm, bleibt ja dann immer noch, dass die die Dynamik innerhalb der Gruppe, die Arbeitsverteilung, das Kundtun, an welchen Aufgabenteilen man selber interessiert ist, sie zu erledigen oder welche Aufgabenteile einem überhaupt nicht liegen. Und dieses, das ganze Kommunizieren und Verteilen von, äh, von Arbeitslast. Ähm, das bleibt ja so anstrengend (schmunzelt)

Marco Tiede: Oder eben, in nem anderen Fall, was ich auch schon mal von jugendlichen Klienten gehört hab, die dann über Gruppenarbeiten berichteten, dass sie lieber alles selbst gemacht haben (schmunzelt), weil die andern ja nicht strukturiert waren…

Martin Koliwer: Ja (danach unverständlich)

Marco Tiede: …oder man besser die Kontrolle behielt.

Martin Koliwer: Oder andere Leute nicht die gleichen Standards haben.

Marco Tiede: Hmm.

Martin Koliwer: Oder ganz viele verschiedene andere Sachen. Und das sind alles eben Faktoren dabei, wo eben Kommunikation mit den Gruppenmitgliedern notwendig ist, wo es notwendig ist, auf diese Leute zuzugehen. Gerade wenn du entweder diese Techniken noch nicht erlernt hast, um das zu machen, oder du mit der Gruppe noch nicht vertraut bist oder es tatsächlich einfach – es kann ja auch sein, dass einfach von der Persönlichkeit her noch mal Probleme dazukommen. Und das erschwert es dann halt noch mal weiter. Und das kann schon ne echte Herausforderung sein.

Marco Tiede: Ja, total.

Mirjam Rosentreter: Als ich dich gefragt habe, was wäre denn so dein Herzensthema, über das du aktuell gern mit uns sprechen würdest? Kam sofort: Masking. Wieso ist das für dich so wichtig? 

Martin Koliwer: Es ist für mich erstens wichtig, weil es das wichtigste Thema für die Außenwahrnehmung von Autisten ist, das heißt, ein Neurotypiker, der mit einem Autisten kommuniziert, kommuniziert als erstes mit der, ja, mit dem Masking dieser, dieses Autisten. Und das zu verstehen, ist erst mal ein ganz, ganz wichtiges Thema, ein ganz wichtiger Punkt. Ähm, das ist im Prinzip, ähm – wie wenn du nach Frankreich fährst und im Urlaub bist, und dann versuchst du, mit einem Franzosen zu kommunizieren. Das Erste, womit du Kontakt hast, ist die französische Sprache, und wenn du die Sprache nicht verstehst, dann kannst du auch mit den Franzosen dahinter nichts anfangen. 

Mirjam Rosentreter: Hmm.

Martin Koliwer: (schmunzelt) Oder zumindest nicht sehr viel.

Marco Tiede: Ja. Was mich noch mal interessiert, ähm, weil wir jetzt ja immer in diesem Englisch gehaltenen Wort Masking sprechen, wie du das, sage ich mal, für Leute, die jetzt der Englischen Sprache nicht so mächtig sind, übersetzen würdest ins Muttersprachliche.  

Martin Koliwer: Na, relativ direkt, als Maskierung. Also, das ist ja im Prinzip genau das.

Marco Tiede: Ja, ja. Weil, ich hab auch von anderen gehört, die sagten, an sich meint es auch nichts als die Anpassungsleistung, die die Menschen zu tun haben, um sich an die ganze Umgebung…

Martin Koliwer: Ja, genau. Das wäre dann die Erklärung.

Marco Tiede: Ja, ja, stimmt, das is die Erklärung, hmm.

Mirjam Rosentreter:Wie viele, wie viele unterschiedliche Maskierungen hast du denn so im Schrank?

Martin Koliwer: Äh, das geht nicht darum, dass du tatsächlich ne, ne Maske trägst wie ein Kleidungsstück oder Ähnliches, du hast auch kein Repertoire an Maskierungen. Sondern das geht da drum, dass du – mithilfe von Masking fügst du dich in die Gesellschaft ein. Das heißt, du, ähm, passt als Person nicht direkt in diese Gruppe rein, also verstellst du dich ein bisschen, ähm – es ist schwierig, besser zu erklären – du verstellst dich tatsächlich ein bisschen und versuchst, damit, dich besser in die Gruppe einzufügen.

Marco Tiede: Mich erinnert das grad son bisschen, so als du das erzählst, ich verstell mich, um son bisschen besser in die Gruppe zu passen, an das Bild eines Chamäleons, das dann die Farbe der Umgebung annimmt.

Martin Koliwer: Ja…

Marco Tiede: Vielleicht hat es was davon, ne?

Martin Koliwer: Vielleicht kann man es sich ein bisschen so vorstellen.

Marco Tiede: …die dann variabel ist, ne, so.

Martin Koliwer: Aber, im Gegensatz zum Chamäleon muss ein Autist fürs Masking eben halt bewusst drauf achten, was er tut und muss halt seine Umgebung genau beobachten. Und genau daher kommt eben auch sehr, sehr viel von diesem Energieaufwand.

Marco Tiede: Hmm.

Martin Koliwer: Dass du eben gleichzeitig nicht nur dich auf das Gespräch konzentrierst, sondern gleichzeitig auf die Beobachtung, die du während dieses Gespräches machst, während du gleichzeitig versuchst, bestimmte Regeln einzuhalten, dann versuchst du, ähm, diese Beobachtung, die du machst, auszuwerten und gleichzeitig die Ergebnisse in das Gespräch einfließen zu lassen. Also, das ist schon recht aufwändig teilweise.

Marco Tiede:Ja.

Mirjam Rosentreter: Also, alles wird durchdacht. Der ganze Prozess ist mit Gedanken voll.

Martin Koliwer: Im Prinzip ja. Also, im Prinzip, wenn – wenn du ne soziale Situation hast, bist du permanent auf Hochspannung.

Mirjam Rosentreter: Wann hat das angefangen? Also, wann hast du zum ersten Mal…

Martin Koliwer: (leise) Das macht man.

Mirjam Rosentreter: …gespürt, dass du da irgendwas anknipsen musst?

Martin Koliwer: Das macht man einfach, das ist halt so. Gegenfrage: Wann hast du das erste Mal gespürt, dass du das nicht musst?

Mirjam Rosentreter: Also ich – ich muss es als neurotypischer Mensch ja auch, aber in anderen Situationen.

Martin Koliwer: Naja, aber…

Mirjam Rosentreter:Aber, dass ich’s nicht muss, hab ich, das hab ich zum ersten Mal – gespürt, glaub ich gar nicht, aber vom Kopf her verstanden, als ich mit Erwachsenen Autisten ins Gespräch kam.

Martin Koliwer: Genau. Bei mir war’s genau andersrum, dass ich das erst realisiert habe, dass das eben bei mir anders funktioniert als bei Neurotypikern, als ich ins Gespräch gekommen bin mit erwachsenen Neurotypikern. (schmunzelt)

Mirjam Rosentreter: Und retrospektiv? Wenn du an dich als Kindergartenkind denkst – als ich grad das Beispiel aus unserem Elternkreis reingebracht habe von der Mutter, ähm, dass ihr Kind im Kindergarten nicht als autistisch erkannt wird, weil es sich so gut anpassen kann. Da hast du gesagt, ja kenne ich auch.

Martin Koliwer: Also…

Mirjam Rosentreter: Retrospektiv, hast du das, warst du im Kindergarten?

Martin Koliwer: Ich war im Kindergarten, ja.

Mirjam Rosentreter: Ja. Und, also, würdest du sagen, da konntest du das schon?

Martin Koliwer: Gerade im Kindergartenalter war ich häufiger, ähm, bei den Erzieherinnen oder bei anderen Erwachsenen zu finden, weil ich mich mit denen häufig besser unterhalten konnte. Und auf der anderen Seite (schmunzelt) – ich hatte, als ich im Kindergarten war, eine sehr, sehr ausgeprägte Dinosaurierphase.

Mirjam Rosentreter: (schmunzelt)

Martin Koliwer: Und, ähm, die führte dann soweit, dass ich mich, ähm, eben nicht mit Dinos, nicht damit beschäftigt habe „Oh guck mal, dass ist ein cooler Dino!“ oder so, sondern dann halt mich beschäftigt habe, dass dieser Dino vor so viel Millionen Jahren gelebt hat und in genau dieser Region, und da wurden so und so viele Skelette gefunden, und der lateinische Name von dem ist übrigens das und das und das. Und, ähm, das wiederum fanden dann die Erzieherinnen natürlich wahnsinnig lustig, so dass das eben halt so rum funktioniert hat. Ähm, und die anderen Kinder im Kindergarten, mit denen habe ich tatsächlich gar nicht so wahnsinnig viel zu tun gehabt, nach dem was ich mich zurückerinnere.

Mirjam Rosentreter: Im therapeutischen Kontext, wo begegnet dir denn da frühestens Masking bei Kindern?

Marco Tiede: Hmmh, da müsste ich erst drüber nachdenken. Ich bin noch grad bei zwei anderen Gedanken hängen geblieben. Der eine Gedanke, als du fragtest, äh, wie viele Masken Martin im Schrank hätte…

Mirjam Rosentreter: Hmmh.

Marco Tiede: Das, ähm, erinnerte mich an einen Bericht einer Autistin in einem, Artikel, den ich gelesen hatte – ich vermute, du auch – die das dann noch mal ein bisschen umgemünzt hatte und sagte, sie hätte Mäntel für bestimmte Gelegenheiten, ein Behördenmantel, einen Ausgehmantel, einen Einkaufsmantel und so, und sagte dann, für bestimmte Situationen stellt sie sich dann entsprechend drauf ein. So ähnlich, wie du das beschrieben hast, jetzt hier im Podcast stellst du dich darauf ein, halbwegs fokussiert und wechselseitig im Gespräch zu bleiben, ähm, könnte man dann Gesprächsmantel nennen in ihrer Analogie so.

Martin Koliwer: Ja, genau.

Marco Tiede: Ja.

Martin Koliwer: Das ist ja auch durchaus ein Sprichwort.

Marco Tiede: Ja. Ja, ja klar. Und, ähm, ich hatte mich nur gefragt, warum sie das unterschieden hatte. Weil, sie sagte, sie maskiert nicht, sie zieht nur noch Mäntel an, denke ich: Ist ja nur ne andere Analogie. Aber sei mal dahingestellt. Ähm, der andere Gedanke war deine Gegenfrage „Wann musst du das nicht, das Maskieren“, ne? Und ich weiß, das geht eigentlich – also, ich würde mal behaupten, ich maskiere nicht, in sehr intimen Situationen, in Zweisamkeit oder aber im Flow-Erleben. Wenn ich irgendwo in Dinge eintauche…

Mirjam Rosentreter: (leise) Hmmh.

Marco Tiede: …und was tue, was mir gerade völlig entspricht. Dann maskiere ich nicht. Ansonsten, in Kontakt mit anderen, würde ich behaupten, ist immer eine gewisse Maske da. Also, das ist anders, ob ich im Arbeitskontext mit Menschen im Gespräch bin oder im privaten Kontext. Oder aber, ich hab ein sehr anstrengendes Wochenende hinter mir, dann setz ich mich jetzt hier nicht hin und lamentiere über mein anstrengendes Wochenende, sondern ich sag: Jau! Willkommen im Gespräch. Und das ist auch ne Maske.

Mirjam Rosentreter: Aber zu welchem Preis? Also, ich glaube der Preis ist höher, den ein Autist dafür zahlt zu maskieren.

Marco Tiede: Ja.

Mirjam Rosentreter: Oder Martin?

Martin Koliwer: Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit dem Begriff ‚Preis‘ dafür wirklich zufrieden bin. Weil, ähm, ja, es ist halt mit nem relativ großen Aufwand verbunden, ähm (atmet schwer aus). Ja, ich weiß nicht, also das, das – der Begriff ‚Preis‘ klingt halt so, als wenn ich irgendwie was dafür, noch was dafür hergeben müsste oder etwas dafür opfern müsste, das zu tun. Und das, das finde ich, ist jetzt nicht der Fall. Es kostet mich halt mehr Energie. Das heißt, ich bin hinterher erschöpfter, das heißt, ich bin, äh, ich bin mir relativ sicher, dass ich, dass wenn wir uns jetzt hier fertig unterhalten haben und ich nachher nach Hause fahre, dann ist das Erste, was ich tun werde, das: Ich werde zu Hause in irgendeinen Sessel fallen und werde erstmal, ähm, ne viertel Stunde Gemüse sein oder so. (lacht)

Mirjam Rosentreter: (lacht)

Marco Tiede: Hmmh.

Mirjam Rosentreter: Ja, ich erinner‘ mich auch noch gut, als wir unser Vorgespräch aufgenommen haben, also einen Probe-Podcast – vielleicht werden wir auch noch mal Teile daraus (schmunzelt), ähm, hier in der Zuhörerschaft zur Verfügung stellen, denn das war ein sehr schönes Gespräch.  Ähm, da bist du noch ein bisschen länger geblieben, und als ich dich dann an der Tür verabschiedet habe, hast du zu mir gesagt: „Boah, jetzt bin ich aber auch erst mal durch!“

Martin Koliwer: Genau (lacht).

Mirjam Rosentreter: Und ich war, ähm, ganz überrascht – also, du hast gesagt: „Also jetzt habe ich erstmal gar keine Energie mehr.“ Und, ähm, das hab ich nicht mitgekriegt, weil ich eben son Flow-Erlebnis mit dir hatte, wie du es gerade geschildert hast, Marco. Und ich hatte danach n schlechtes Gewissen und hab gedacht, wo hab ich vielleicht dann zu wenig Empathie gehabt in dem Moment? Wo hätte ich dir vielleicht mehr Ruhe lassen können, damit du dich zwischendurch ein bisschen regenerieren kannst 

Martin Koliwer: Darum geht’s doch nicht (lächelnd). Es geht nicht darum, dass du irgendwas falsch gemacht hättest in diesem Gespräch. Oder es geht auch nicht darum, dass andere Neurotypiker oder auch andere Autisten, weil, auch Autisten untereinander, ähm, haben durchaus, ähm, Situationen, wo sie gegeneinander maskieren müssen – oder das halt tun – und, ähm, es geht nicht darum, dass dann derjenige was falsch gemacht hat, weil das Energie gekostet hat. Das ist einfach die soziale Interaktion als solche, die die Energie kostet. Und wenn das ne Weile andauert, dann ist das halt, als wenn ihr ne Weile lauft oder so. Das kostet halt Energie.

Marco Tiede: Ja. Und im Extremfall, das ist ja dann auch häufig nachzulesen in diversen Berichten – äh, für dich ist es immer noch ne Erschöpfung, die du ganz gut ausgleichen kannst, so höre ich das – und im Extremfall ist das für manche Leute dann eine Erschöpfung, die irgendwann nicht mehr aufhört und dann irgendwann auch in einer Art Erschöpfungs-Depression münden kann.

Martin Koliwer: Genau (danach unverständlich).

Marco Tiede: (unverständlich) Halt zu vielfältigen Problemen führt, die dann, ähm, im Fachdeutsch als Komorbiditäten bezeichnet werden oder als so als Begleitkrankheiten.

Martin Koliwer: Ja. Also, man kann sich durchaus auch ins Burnout maskieren.

Marco Tiede: Ja. Ja. Und das ist eben nämlich die, ich sag mal tragische Seite der Medaille des Maskings, weil das Masking hat nen bestimmten Sinn und das sollte aber nicht eben – äh, ich bleib auch n bisschen an der Analogie des Preises hängen – den Preis haben, dass Mensch deswegen, äh, erschöpft in irgendwelche, ähm, Begleiterkrankungen fällt, so.

Martin Koliwer: Ja, da ist es halt wichtig, dass man guckt, dass man sich dann eben die Zeit hinterher gönnt, dass man sagt: okay, ich hab jetzt meine ein, zwei Stunden soziale Interaktion, das ist mein persönliches Maximum, das ich gerade in dem Moment durchhalte. Danach gehe ich nach Hause und dann mache ich auch quasi erstmal quasi die Schotten dicht und zieh mich ne, ne viertel Stunde, ne halbe Stunde, ne Stunde oder zwei zurück – je nachdem, wie lange es halt dauert, ähm, um die Energie halt wieder reinzukriegen. Und das ist dann halt auch was, was man dabei eben auch erst erlernen muss, wie das funktioniert.

Marco Tiede: Hmmh.

Mirjam Rosentreter: Wer hat dir dabei geholfen, das zu erlernen?

Martin Koliwer: (atmet schwer aus). Ja, ähm, was heißt ‚geholfen‘? Ähm, erstmal ist das natürlich ein Prozess, den du selber schaffen musst, weil, du selber halt raus…, also, es kann dir niemand sagen: Du brauchst jetzt übrigens ne Stunde Ruhe, dass du wieder danach funktionieren kannst. Ähm, das muss man selber rausfinden. Was man natürlich machen kann, ist demjenigen durchaus dann Ruhe eben zu verschaffen oder demjenigen zu vermitteln, ähm: Es in Ordnung, wenn du dich jetzt ein bisschen zurückziehst. Und das ist durchaus auch von meiner Familie, von meiner Mutter, von, äh, meinem ganzen Umfeld durchaus passiert. Ähm, aber der Prozess des Erlernens, des Rausfindens, wie viel Ruhe brauche ich, welche Form von Ruhe brauche ich, ähm, wie kriege ich meine Energie am besten wieder rein, das ist ein Prozess – ich glaube nicht, dass der bei mir abgeschlossen ist, dass ich alles darüber weiß, wie ich am besten nach Sozial-Interaktion wieder regeneriere.

Mirjam Rosentreter: Hmm. Was ich noch nicht ganz verstanden habe, ist, ähm, was genau du beim Maskieren unterdrückst. Also, gibt es – die autistische Wahrnehmung ist ja ne vollkommen andere als die nicht-autistische Wahrnehmung, soweit ich das bislang gelernt habe und aus Gesprächen mit anderen erwachsenen Autisten so gelernt habe eben.

Martin Koliwer: Das deckt sich mit dem, was ich bisher in Gesprächen mit Neurotypikern gelernt habe.

Mirjam Rosentreter: Okay?!

Martin Koliwer: (lacht)

Mirjam Rosentreter: Dann, dann frage ich anders. Also, äh, als ich das letzte Mal eine junge Frau kennen gelernt habe, die sich, die bei ner Messe, wo wir unseren Podcast vorgestellt haben, bei der Jobmesse vom Martinsclub vor mir stand – die sagte zu mir, sie hat mich gefragt, ähm, als wir schon länger gesprochen hatten, wir so ein bisschen uns auch kennen gelernt hatten: „Mich würde mal interessieren, wie du dich gerade fühlst. Also, so als Neurotypikerin.“ – „Ja, ich, ich fühl mich gut, das ist n total angenehmes Gespräch mit dir. Wie fühlst du dich denn?“ Und da sagte sie zu mir: „Ich fühl mich grade wie ne Grille am Abend.“

Martin Koliwer: Okay?!

Marco Tiede: Interessant

Martin Koliwer: Interessanter Vergleich.

Marco Tiede: Sehr positives Bild! Also, für mich klingt das poetisch. Und ich weiß nicht, was sie damit assoziiert. Ob ‚die Grille am Abend‘ etwas ganz Anstrengendes symbolisiert oder ob es etwas – für meinen Verständnis in der Poesie – was fast schon Romantisches hat. Ne? Die zirpt so vor sich hin, und man denkt so: Ja, Sternenhimmel!

Martin Koliwer: Oder es ist halt die Arbeitszeit.

Mirjam Rosentreter: (schmunzelt) Hmm.

Martin Koliwer: Weils die Zeit ist, zu der Grilllen halt zirpen.

Mirjam Rosentreter: (lacht)

Marco Tiede: Also ist sie im Stress!

Martin Koliwer: Wäre ja auch ne Möglichkeit, das zu deuten.

Marco Tiede: Ja, ja.

Mirjam Rosentreter: Ja, wir haben dann auch darüber gesprochen. Ich hab gesagt: „Oh, das ist aber – also, das klingt für mich aber nach ner total angenehmen Situation.“ Aber ich hatte die Außensicht auf die Grille, ne! Also, wenn ich Grillen höre, dann denke ich an nen lauen Sommerabend, und schöner könnt‘s gar nicht sein irgendwie. Schönes Licht, schöne Luft und so weiter. Und sie war aber ja die Grille! Also, deine Frage ist ganz berechtigt: Für sie war es Arbeit. Man muss sich das Ganze vorstellen, in sonem Messe-Kontext, ne: Wababawababa, überall Gespräche, Geklapper und diese, dieser Geruch und diese schlechte Luft und alles. Aber da haben wir uns angenähert! Ich, wir machen ja diesen Podcast, um die Grenze zu überschreiten! Also, da ist ja irgendwas, Was du gerade meintest…

Martin Koliwer: Ja.

Mirjam Rosentreter: …damit wir euch Autisten und Autisten kennenlernen und –versuchen können zumindest – uns in eure Köpfe, in euer Gefühl so reinzufühlen und umgekehrt.

Martin Koliwer: Hmmh

Mirjam Rosentreter: Deswegen, stell uns gerne auch Fragen!

Martin Koliwer: Also, je länger ich drüber nachdenke über den Vergleich, umso besser finde ich den. Weil, ähm, es ist ja einerseits, also mit der ‚Grille am Abend‘, eigentlich ist das ein verdammt guter Vergleich! Du hast einerseits den Aspekt für die Grille, dass das halt Arbeit ist, und dass das halt etwas ist, was sie tut, weil sie’s tun muss oder weil’s halt gerade erwartet wird, oder weil’s halt – das ist halt so. So funktioniert das halt. Und auf der anderen Seite dann die Außenwahrnehmung der Grille, was ja durchaus ne angenehme Situation darstellt oder, ja, eben, wie du schon gesagt hast, den, den schönen Sommerabend.

Mirjam Rosentreter: Hmmh.

Martin Koliwer: Ähm, das heißt, auch beim Masking ist es ja so, dass das für den Neurodiversen durchaus ein Stück Arbeit ist. Ähm, und für den Neurotypiker dann wiederum dann die angenehme Situation, dass für ihn ja alles ist, wie es sein muss.

Marco Tiede: Ja, stimmt. Also jetzt, wo du’s sagst, hast du recht, das ist wirklich so. Wir haben das idyllische Außenbild von „Ach, das klingt so schön, lauer Sommerabend“ – und die Grille hat einfach mal gerade richtig zu tun. Und für sie ist das kein lauer Sommerabend, die macht einfach ihren Job, und wir machen uns überhaupt kein Bild, was für einen Stress vielleicht die Grillen haben, die uns dann diese romantische Atmosphäre (lacht) vermitteln, ne?

Martin Koliwer: Ja.

Mirjam Rosentreter: Oder auch einige Menschen, die ich kenne, die selber nicht autistisch sind, aber mit erwachsenen Autisten und Autistinnen zu tun haben, sagen oft: „Die sind so angenehm. Ich find die so – also, ich bin total gerne mit denen zusammen.“ (unverständlich) Weil die eben oft ne Ruhe ausstrahlen, wie so ne Grille am Abend. Und wenn ich da jetzt so drüber nachdenke, frage ich mich, äh, wie oft merken wir dann nicht, wie viel Arbeit das beim Gegenüber eigentlich gerade ist.

Marco Tiede: Ja. Die angenehmen Autisten, die sind alle sehr, sehr hart am Arbeiten. Die du grad so angenehm ruhig empfindest.

Martin Koliwer: Also…ich…

Mirjam Rosentreter: …Also, was arbeitet gerade in dir? Martin, versuche es irgendwie zu beschreiben!

Martin Koliwer:…Möchte an der Stelle noch kurz was einwerfen vorher. Und zwar: nur, weil das Arbeit ist, heißt das nicht, ähm, dass ein Autist das in dem Moment nicht gerne macht. Es kann durchaus sein, dass, ähm, ein Autist in einem Gespräch oder einer sozialen Situation oder anderem wirklich voll aufgeht, aber es ist halt trotzdem anstrengend. Häufig passiert es dann halt auch, dass man in der Situation – gerade als Autist – das nicht unbedingt so wahrnimmt, dass man gerade richtig, richtig viel Energie verbrennt, aber dass man halt aus dieser Situation rausgeht und wenn, wenn du dann eben aus der Situation raus bist, feststellst: Oh Fuck, mein Akku ist alle.

Martin Koliwer: (lacht)

Mirjam Rosentreter: Stimmt! Du hast mir mal gesagt, dass du in solchen Phasen, wo du ganz viel redest oder, oder dich konzentriert mit etwas beschäftigst, äh, zu essen und zu trinken vergisst.

Martin Koliwer: Ja, das kann durchaus passieren (schmunzelt). Ähm, das sind halt so Sachen. Du hast so viele, so viele Sachen im Kopf, soviel, äh, zu berücksichtigen, zu denken, zu überlegen, dass du dabei halt dann andere Dinge anders priorisierst auch. Ich meine, wenn ihr in einen Workflow geratet, dann kennt ihr das doch auch, oder nicht?

Mirjam Rosentreter: Ja.

Marco Tiede: Hmm, ja klar.

Marco Tiede: Aber der Aspekt, den du grad benennst, öhm, dass du dann plötzlich sehr verblüfft feststellst: Oh, mein Akku ist alle! Ähm, das ist dann auch der Umstand, der es dann für viele so tragisch macht. Auch da sind wir ja in nem Spektrum, ne? Für manche ist das irgendwie noch alles ganz gut, ähm, beeinflussbar und sie können rechtzeitig ihre Pausen nehmen oder das irgendwie kommunizieren – das kann ja auch wichtig sein…

Martin Koliwer: Oder sie reglementieren es sich, dass sie zum Beispiel genau wissen: Ich nehme mir alle Stunde eine Pause.

Marco Tiede: Ja, ja. Dass sie sich dann, dass sie da schon ne Struktur vorgeben und sagen: So muss es gehen, sonst können wir das nicht machen. Und dann gibt’s eben die, die das tatsächlich nicht merken oder so doll es nicht merken, dass sie das erst merken, wenn sie dann schon über…

Martin Koliwer: Wenn’s dann den Bereich der Selbstverletzung betrifft.

Marco Tiede: So ist es! Genau. Wenn sie dann wieder in den Bereich von Depressionen oder sonstwas kommen oder kompletter Erschöpfung und auch sich selbst infrage stellen, weil sie immer denken, warum bin ich denn so erschöpft? Weil sie das gar nicht realisieren, dass das vom Maskieren kommt.

Martin Koliwer: Ja, aber selbst, wenn man’s realisiert, kann’s halt durchaus, äh, vorkommen, dass sich dann Sachen einschleichen wie ein: Ja, aber andere Leute kriegen das doch auch hin! Oder: So, so schwer ist das doch nicht! Ich muss mich einfach nur ein bisschen zusammenreißen.

Marco Tiede: Der hohe Anspruch an sich selbst, ne! Aber der auch vom Umfeld kommt! Die auch sagen, dass du dich doch mal zusammenreißt.

Martin Koliwer: Ja, aber halt eben auch, ähm – es wird einem auch vom Umfeld sehr stark vorgelebt, dass sowas halt nicht anstrengend ist. Dass… ich mein, gerade extrovertiertere Leute können durchaus ja eben in sozialen Situationen Energie zurückgewinnen. Und wenn du dann sowas siehst, dann ist das halt häufig absolut unverständlich. Und besonders schwierig ist das dann, nur weil du autistisch bist, heißt das nicht automatisch, dass du introvertiert bist! Es gibt ja durchaus auch extrovertierte Autisten. Das heißt, die gewinnen ihre Energie wieder zurück und geben Sie halt auch direkt wieder in den Situationen aus. Also, das kommt auch vor.

Marco Tiede: Bei dem Erwartungsdruck oder der Erwartungshaltung des Umfeldes, ne, die dann sozusagen verkörpern: „Das kann ja wohl nicht so anstrengend sei!“ Liegt nämlich noch ne andere Tragik der Maskierung, die dann immer mal wieder autistische Menschen erleben, indem sie funktionieren, weil sie gerade erfolgreich maskieren und dann sie in Situationen erleben, wo sie gerade nicht funktionieren können, und das nicht zusammenbringen.

Martin Koliwer: Ja.

Marco Tiede: Weil das so heterogene Fähigkeitsprofile mit sich bringt.

Martin Koliwer: Genau, das können wir auch tatsächlich sagen, dass bestimmte Arten von Situationen funktionieren, weil der Autist gelernt hat, damit umzugehen.

Marco Tiede: Hmm.

Martin Koliwer: Und wenn sich die Umstände ein bisschen ändern, dann passt das nicht mehr ins Schema oder funktioniert das erlernte Muster nicht mehr und dann funktioniert die, diese Person plötzlich überhaupt nicht mehr.

Marco Tiede: Ja, weil die Übertragbarkeit nicht vorhanden ist, ja.

Martin Koliwer: Ja. Oder eben in dem Moment nicht in der Lage ist, geleistet zu werden.

Marco Tiede: Nicht abrupt, ja.

Mirjam Rosentreter: Wann ist dir das zuletzt passiert?

Martin Koliwer: (atmet schwer aus) Wann es mir zuletzt passiert ist, dass ich nicht in der Lage war, mich in eine Situation einzufügen?

Mirjam Rosentreter: Hmmh.

Martin Koliwer: Ähm. Ist schon bisschen her. Aber ich hab’s tatsächlich häufiger, wenn ich in, in Gruppen bin ich nicht kenne, wie beispielsweise beim Studium zum Beispiel. Wenn man in eine Universität das erste Mal äh reinkommt, zum Beispiel und den Vorlesungssaal betritt und absolut keine Ahnung hat, welche sozialen Regeln gelten jetzt hier in dieser Vorlesung? Und man dann feststellt, nach der Vorlesung äh fängt plötzlich der ganze Raum an, auf den Tisch zu klopfen und man selber hat das halt noch nie gehört, noch nie gesehen und fragt sich: Was passiert hier gerade? (lacht) Und, ähm, oder auch eben die – die Kommunikation von Universitäten läuft ja häufig über, ähm, dieses Mund-zu-Mund-Propaganda ab, so dass du halt – Einer hat was gehört, gibt diese Information weiter an den nächsten – und wenn du aber diese Netzwerke nicht bildest, dann bist du mit dieser Situation massiv überfordert. Also, das ist so das erste Beispiel, was mir spontan einfällt.

Mirjam Rosentreter: Du studierst ja Kulturwissenschaften in nem Fernstudium gerade, ne?

Martin Koliwer: Genau.

Mirjam Rosentreter: Nachdem du zwei andere Studiengänge, ähm, schon mal angefangen hattest. Den einen hast du abgebrochen. Das war Elektrotechnik…

Martin Koliwer: Ich hab erst Elektrotechnik an der Universität Bremen studiert. Ähm, das hat einfach absolut nicht funktioniert. Dann habe ich, weil ich das durchaus aber interessant finde und halt auch machen wollte unbedingt, habe ich angefangen, Elektrotechnik noch mal an der Fachhochschule zu studieren. Auch das hat nicht besser geklappt. Ähm, dann bin ich zurück an die Universität und habe dort angefangen, Germanistik und Geschichte zu studieren. Ähm, das hat mir großen Spaß gemacht und das hat auch einigermaßen geklappt – ich hatte zu dem Zeitpunkt auch eine Studienassistenz. Die wurde mir dann aber äh nicht weiter genehmigt. Und, ähm, kaum war die Studienassistenz nicht mehr genehmigt, äh, ja, ist mir eine Prüfung durch die Lappen gerutscht und, äh, weil die Universität Bremen dich permanent neu anmeldet für eine vergessene Vorlesung, dir aber keine Nachrichten gibt dafür, dass es passiert ist – weil das halt selbstverständlich ist oder erwartet wird, dass du eventuell mit deinem Professor kommunizierst, hatte ich dann halt irgendwann komplett unerwartet, einen Brief von der Uni im Briefkasten für die Exmatrikulation wegen dreimal nicht bestandener Prüfung, also nicht wahrgenommener Prüfung.

Marco Tiede: Das ist dann wieder ein Phänomen der Erwartung des Umfeldes, dass du, der ja so eloquent und so beredsam ist, also klug ist, dann eben auch die Strukturen der ganzen Prüfungs-Leistungs-Erbringung durchschaust und das eben ohne Assistenz nicht ging. Ich weiß nicht, ich kann mich nicht mehr erinnern, warum damals die Studienassistenz aberkannt wurde, da du – der bescheuertste Grund ist ja, dass Studienassistenz oder Schulassistenz, hab ich auch schon erlebt, abzuerkennen mit: Na, es läuft doch jetzt ganz gut, dann können wir den ja abziehen.

Martin Koliwer: Genau das war.

Marco Tiede: Aber, ja, ne? Dass es eben genau deswegen gut läuft, weil der ja da ist.

Martin Koliwer: Genau. Das Argument damals war, ähm: Das wird jetzt nicht mehr weiter verlängert, weil, probieren wir’s doch mal ohne, es hat ja jetzt ganz gut geklappt. Es kann ja nicht sein, dass Sie jetzt ewig Assistenz bekommen!

Marco Tiede: Ja, ja. Weil, wahrscheinlich hat der Studienbegleiter mal eben Autismus geheilt, ne? (lacht) Wenn das…als wenn das ginge, ne so. Und das ist so, ja…

Martin Koliwer: Oder, als ob’s notwendig wäre! Im Prinzip versucht man ja Leute… also, wenn, wenn, wenn man davon spricht, man möchte Auti…, wenn, wenn, wenn man davon spricht, Autismus zu ‚heilen‘, ähm, ist das im Prinzip so, als wenn man Leute von einer, von einem Persönlichkeitstyp heilen möchte. Das ist ja als Konzept einfach schwierig.

Marco Tiede: Ja, ja, das kam, das Thema kam letztens sogar im Elternkreis auch auf: Was machen wir da eigentlich im Autismus-Therapiezentrum? Warum heißt das ‚Therapie‘? Was bedeutet ‚Therapie‘? Und für mich bedeutet das ja nicht, die Struktur des Autisten zu verändern, sondern sich mit den Problemen und Zuständen zu befassen und zu gucken, wie könnte dort äh helfende Möglichkeiten an die Hand geben, ne? Weil, ich denke, das was du jetzt Persönlichkeitsanteile nennst, nenn ich dann Struktur. Also das kommt so, ähm, aus der Ecke von Tebartz von Elst, der dort einer der Autismus-Koryphäen in Freiburg an der Uni sind. Und der hatte das mal ganz schön aufgegliedert in diese dreigliedrige Struktur von Zustand, Problem und Struktur. Und sagt, wir verändern nichts an der Struktur der Persönlichkeit. Sondern wir schauen, was wir am Zustand und am Problem ändern können.

Martin Koliwer: Also ich kenne dich ja tatsächlich aus dem, ähm, Autismus-Therapie-Kontext ursprünglich…

Marco Tiede: Hmm.

Martin Koliwer: Und, ähm, als Empfänger dieser Autismus-Therapie war‘s für mich halt immer so der Eindruck, dass das Ziel der Autismus-Therapie nicht ist, ähm, den Autismus auszutreiben…

Marco Tiede: Ja.

Martin Koliwer: …oder zu heilen…

Marco Tiede: Ja.

Martin Koliwer: … oder sonst irgendwas.

Marco Tiede: Das freut mich, dass das so angekommen ist. (lacht)

Martin Koliwer:  Quasi halt, ähm, Werkzeuge in die Hand zu geben, damit eben, dieser Maskierungs-Prozess einfacher wird und eventuell dann halt in Situationen, in denen das eben schwierig ist, dass man da halt das passende Werkzeug zur Hand hat.

Marco Tiede: Hmm. Das Interessante war nämlich, das auch, äh, in dem Elternkreis dann – zumindest bei einer Mutter – so, ähm, gesagt wurde, dass sie Therapie immer mit Umerziehung assoziiert und sie: Wir sollten doch lieber das Wort Therapie aus unserer, ähm, Zentrums-Bezeichnung nehmen. Wo ich sag: Naja, wenn du aber auf den Wortstamm gehst im Altgriechischen, oder ich weiß nicht, ob es Altgriechisch war, aber ich meine mal irgendwo, äh, im Wortursprung gelesen zu haben, dass Therapie von ‚jemandem dienen‘ kommt. Und das ist ja dann auch unser Job. Wir dienen jemanden, um mit den Dingen klarzukommen.

Martin Koliwer: Und es gibt ja noch einen ganz praktischen… äh, ganz praktisches Argument dafür, warum das ‚Therapie‘ da drinne wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht ist. Und zwar ist es halt einfach die erste Assoziation mit: Ich habe ein Problem, also suche ich mir vielleicht n Therapeuten gegen das Problem.

Martin Koliwer: Also, es ist einfach auch ein, äh, Hilfsmittel quasi, um die Autismus-Therapie zu finden.

Marco Tiede: Ja, naja, klar. Und dann, letztlich helfen wir ja nur auch – oder ‚nur‘ ist vielleicht gut gesagt, wir versuchen, Unterstützung dabei zu geben, für jeden selbst herauszufinden, was hilfreich ist und das dann anzuwenden. Weil, wir können ja nicht viel bewirken. Aber wir können Möglichkeiten aufzeigen. Und dann guckt jeder für sich, welche Möglichkeit für einen passen.

Martin Koliwer: Ja.

Mirjam Rosentreter: Wenn ich euch so zuhöre, fällt mir auf, dass, äh, jemand wie du, Martin, sein ganzes Leben, ab dem Zeitpunkt, wo ihm bewusst geworden ist, ‚ich hab n Problem‘, sich bemüht, dieses Maskieren zu lernen. Du hast ja grad gesagt, so im…

Martin Koliwer: Nein das, ähm, man – man ist sich ab diesem Zeitpunkt bewusst, dass man versucht, diese Maskierung zu lernen. Aber man macht das halt auch schon vorher, weil du auch schon vorher den Wunsch hast, dass die Leute mit dir klarkommen. Und, man hat ja durchaus auch als Autist in der Regel, äh, ein gewisses Sozialbedürfnis, und du hast ja durchaus auch das Interesse daran, weil, du siehst ja auch bei andern Leuten, das die, äh, Spaß dran haben an sozialer Interaktion. Oder, dass es eben auch einfach ein Vorteil ist tatsächlich in bestimmten Situationen, wenn du in der Lage bist, mit Leuten zu reden. Und deswegen hast du ja schon durchaus – also, du hast ja den, den, den Antrieb hast du durchaus schon vorher.

Mirjam Rosentreter: Hmm.

Martin Koliwer: Du wirst dir dessen halt bewusst, ähm, dass du, äh, was du halt quasi machst. Du fängst an, quasi dir, dir selber auf die Finger zu schauen dabei, was du tust, aber die Tätigkeit hast du schon vorher gemacht.

Mirjam Rosentreter: Aber, was ich meinte, darauf wollte ich hinaus: Du lernst es als Autist, ähm, ein Leben lang und wirst dir bewusst, machst dir darüber Gedanken, jeden Tag. Aber, du bewegst dich jeden Tag in einer Gesellschaft, wo (macht schnaubendes Geräusch) neunzig, fünfundneunzig Prozent, oder vielleicht sogar neunundneunzig Prozent – nämlich diejenigen, die nicht autistisch sind – sich darüber nicht Gedanken machen, was du dort leistest. Also, die dann im Zweifel sagen, wie jemand in ner Prüfungskommission an einer Uni: Wieso? Der kann das doch bis jetzt! Hat sich da dreimal nicht angemeldet oder ist dreimal nicht zur Prüfung gegangen, den exmatrikulieren wir, es ist uns doch egal, der hat ja gezeigt, dass er eigentlich was kann.

Martin Koliwer: Ja speziell Universitäten sind da besonders unterhaltsam teilweise, was ihre Vorstellung von, von Autismus angeht. Weil’s dann teilweise fest definierte Nachteilsausgleichs-Kataloge gibt wo es dann heißt, okay du bist Asperger-Autist mit so und so viel Grad der Behinderung, das heißt, du kriegst diese und jene Leistung. Wie, das passt für deinen Typ Autismus Nicht? Ist egal, steht hier, kriegst du. (schmunzelt)

Marco Tiede: Ja, das ist dann wieder so bürokratisch vorkategorisiert.

Martin Koliwer: Genau.

Marco Tiede: Die dann nicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten angepasst werden, ne.

Martin Koliwer: Genau.

Marco Tiede: Das ist ja auch, äh, in anderen Systemen so.

Martin Koliwer: Und genau das ist halt auch eins der großen Probleme dabei, ähm, dass – ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ob der Anteil der Neurotypiker tatsächlich so groß ist, weil das ist n ganz, ganz großes Ding mit der Definitionsfrage. Ab wann ist jemand Neurotypiker? Der ist – Autismus ist ja kein, ähm, kein binärer Zustand, wo du – du bist Autist oder du bist es nicht – das ist ja ein Spektrum, in das du quasi reingleiten, gleitest oder wieder rausgleitest, je nachdem, wo du halt hinfällst. Und ähm, deswegen, das ist ja, ähm – es gibt Leute, die sind, ähm, die haben autistische Züge. Es gibt Menschen, die haben nur so ne leichte Tendenz. Es gibt Menschen, die sind schwer autistisch, es gibt Menschen, ähm, die haben ganz unterschiedliche Varianten von Autismus. Darum nennt man es ja ein Spektrum.

Marco Tiede: Ja.

Mirjam Rosentreter: Und was Masking, ähm, für Menschen bedeutet, die da sich gar nicht mit auseinandersetzen, die es entweder einfach nur tun oder es nicht tun – darüber haben wir ja noch gar nicht gesprochen, ne.

Marco Tiede: Wie meinst du das?

Mirjam Rosentreter: Also Menschen, die nonverbal sind. Auch die, ähm, sind ja in vielen Situationen eigentlich zu ihrem eigenen Schutz gezwungen zu maskieren, oder sie können‘s eben nicht und sind dann, haben dann keinen Schutz mehr vor den Reaktionen des Umfeldes.

Marco Tiede: Das ist ja dann wieder für mich auch meine Hoffnung, dass das Umfeld sich zunehmend auch auf die Bedürfnisse autistischer Menschen einstellen kann, um dass der Energieaufwand des Maskings n Stück weit minimiert werden kann. Also, dass dann auch klar ist, äh, wie du vorhin sagtest, jede Stunde Pause brauche ich ne Pause, muss ich mich irgendwie ne viertel Stunde zurückziehen. Oder dass man schon vorher sagt: Es kann sein, dass ich zwischendurch n bisschen schaukle oder Ticks ausbilde und, ähm, kommentiert das nicht weiter. Es ist einfach so, es tut mir gut, um mit der Situation klar zu kommen. Weil, das gehört ja auch dazu. Also, es gibt ja dann Situationen, wo Leute dann die Ticks extrem unterbinden und, ähm, vermeiden, damit sie nicht so auffallen, um dann diese aber dann doch wieder im privaten oder vertrauten Kontext wieder umso mehr rauslassen zu können. Und wenn das dann bekannter wäre in vielleicht auch Umfeldern, die vielleicht nicht so oft mit Autismus zu tun haben, dann wissen sie: Ah, okay, der braucht das grad irgendwie um klarzukommen, so.

Mirjam Rosentreter: Ja. Weil wir langsam zum Schluss kommen müssen, weil, wir haben ja etwas später angekommen, weil du dich, äh, verspätet hast…

Martin Koliwer: Tut mir einfach leid.

Mirjam Rosentreter: (schmunzelt) Ähm, wenn du jetzt – wir haben auch jetzt keine Zeit mehr, über deinen tollen Nebenjob, den, mit dem du dir dein Studium finanzierst gerade, den Grabungshelfer zu sprechen.

Martin Koliwer: Genau.

Mirjam Rosentreter: Aber, ich habe noch eine Frage an den Grabungshelfer, der, ähm, den du zumindest im Job dann auch verkörperst.

Martin Koliwer: Schieß los.

Mirjam Rosentreter: Hm. Wo müssten wir jetzt noch mal den Spatel ansetzen und aufpassen, dass es nicht knirscht, was haben wir noch heute nicht rausgearbeitet am Thema, dass sie noch wichtig wär?

Martin Koliwer: Ähm, also im Prinzip ist das wichtigste, glaube ich, äh, auch für, auch für Hörer des Podcasts, ähm, was für Hilfestellungen kann ein Neurotypiker oder ein Außenstehender oder auch ein anderer Autist für jemanden, der autistisch ist, bieten, damit eben ein Raum geschaffen wird, wo derjenige eben in der Lage ist, sich eben halt dann auch, wenn er feststellt, ich kann gerade nicht mehr, ähm, sich dann zurückzuziehen, zurückzunehmen oder halt eben entsprechende Ticks auszuleben, wenn das demjenigen dann hilft – das ist ja auch nicht bei jedem der Fall – und, ähm, tatsächlich die Art Autist zu sein, die er halt ist. Und, ähm, wenn man – ja, im Prinzip wär es mir halt am wichtigsten, dass das herausgebildet wird, dargestellt wird, was eben für Hilfestellungen von außen da möglich und sinnvoll sind. Und wo halt einfach tatsächlich am sinnvollsten ist, denjenigen einfach dann mit seinen Macken und Ticks zu akzeptieren und das halt so anzunehmen, dass derjenige – ja, der, der macht das, weil’s halt ihm guttut.

Marco Tiede: Hmm. Und das eben nicht als Provokation aufzufassen, weil’s vielleicht auch manchmal n Bedürfnis sein kann, bestimmte Wörter zu wiederholen, die man sagt, so, ne?

Martin Koliwer: Oder eben auch, ähm, Brüche mit sozialen Normen auch mal zu akzeptieren. Sowas wie eben dieser Klassiker, dieses, die, dieses in die Augen kucken, was halt häufig eben nicht gemacht wird. Oder was eben auch zum Beispiel unter Stress wirklich, wirklich, wirklich unangenehm sein kann. Ähm, ich erinner mich zum Beispiel, ich hab ne Situation mit meinem ehemaligen Schulleiter gehabt, der, ähm, damit überhaupt nicht klar gekommen ist, dass er mit mir gesprochen hat und ich ihm dabei nicht in die Augen geguckt habe, was da drin eskaliert ist, dass er mich dann letztlich, letzten Endes angebrüllt hat, ich solle ihm bitte in die Augen gucken und dass das – das hat mich massiv überfordert! Und mir ist es halt wichtig, dass, ähm, gerade bei diesem Thema eben auch da rausgenommen wird, dass es eben nicht zu solchen Situationen kommt.

Marco Tiede: Zumal das Anbrüllen dann ja auch nochmal ein massiver Reiz ist, den du zu verarbeiten hast.

Martin Koliwer: Ja, genau. Das macht alles nur schlimmer und nichts besser.

Marco Tiede: (unverständlich). Das ist so, also nicht nur unter Autisten schlimm, auch für Kinder ist das schlimm, wenn sie angeschrien werden. Das ist wie Eine reinhauen.

Martin Koliwer: Im Prinzip ja.

Marco Tiede: Ja. Und das, äh, dass das nicht so bedacht wurde. Neulich hatten wir ne Veranstaltung im Martinsclub – vielleicht noch ganz kurz. Und da kam ne Moderatorin so – weil das ne inklusive Veranstaltung war, war sie blind – und die hat ganz begeistert da das Ganze moderiert. Und hatte dann aber, weil Party-Stimmung war – Martinsclub feiert fünfzigjähriges Jubiläum, ähm, ne – und sie hatte dann über ihrem Kopf einen Ballon zum Platzen gebracht. Und das war für eine Kollegin, die im Autismus-Spektrum ist, Bianca – du kennst sie – äh, ne ziemliche Zumutung, dass sie mal eben dort auf der Bühne einen Ballon zum Platzen brachte. Sie war dann erstmal, wahrscheinlich, für n paar Minuten son bisschen draußen, ne.

Martin Koliwer: Ja, gerade, wenn du dich eben sehr drauf konzentrierst, dass du eben alles im Kopf behältst, wie du dich eben in der Situation zu verhalten hast und was erwartet wird und was du machen musst, und gleichzeitig eben diese Situation zu händeln, zu schaukeln, ähm, können dich solche Dinge halt dann einfach sehr, sehr rausreißen. Und dann bist du – weil das einfach auch Dinge sind, die in deinem Schema quasi nicht drin sind, nicht reinpassen. Und, äh, der Versuch, die dann spontan so zu integrieren, dass du damit trotzdem klarkommst, das – das kann richtig anstrengend sein.

Marco Tiede: Ja. Und dann, bestenfalls, ähm, dem Gesprächspartner, der, äh, der nicht im Spektrum ist, zu signalisieren, oder umgekehrt, der könnte signalisieren: Oh, ich sehe gerade, du bist irritiert, du bist gerade raus. Brauchst du Zeit? Wäre schön, wenn das passiert.

Martin Koliwer: Ja.

Mirjam Rosentreter: Martin, schön, dass du heute da warst! Ähm, ich wünsch dir bei deinem Studium der Kulturwissenschaften, allen Erfolg, den du dir wünscht.

Martin Koliwer: Vielen Dank.

Mirjam Rosentreter: Und würde gerne mit dir darüber, was du da eigentlich erforscht und was vielleicht auch, ähm, das Neurotypisch-Sein für ne Kultur ist noch sehr viel tiefer einsteigen. Würd mich freuen, wenn du noch mal zu uns kommst!

Marco Tiede: Ja.

Martin Koliwer: Sehr gerne!

Marco Tiede: Jederzeit willkommen!

Mirjam Rosentreter: Wenn ihr weitere Infos, zu unserem Podcast haben wollt, dann besucht uns auf unserer Internetseite spektrakulaer.de. Ihr könnt uns auch schreiben und Nachrichten hinterlassen auf unserem Instagram-Kanal

spektakulär_podcast – mit ‚ae‘ beides jeweils geschrieben. Und wenn ihr uns ne persönliche Nachricht schreiben wollt oder gerne auch mal Gast sein wollt bei uns – darüber würden wir uns sehr freuen – könnt ihr uns auch eine E-Mail schreiben an hallo@spektakulaer.de, auch wieder mit ‚ae‘.

Marco Tiede: Ja. Ich musste grad kurz überlegen, als du sagtest, „spektrakuaer_podcast, beides mit ‚ae‘“, dachte ich, wo ist noch ein ‚ae‘ in Podcast.

Mirjam Rosentreter: (lacht)

Marco Tiede: Aber du meintest die, äh, Webseite, die ja auch mit ‚ae‘ geschrieben wird.

Mirjam Rosentreter: Mit ‚ae‘, ja.

Marco Tiede: (lacht) Da war ich grad n bisschen langsam. Auch das passiert unter nicht-autistischen Menschen. Weil das, ist ja auch etwas, was charakteristisch ist oder auch charakteristisch sein kann – das muss man wieder im Spektrum sehen – dass die Wahrnehmungs-Verarbeitung auch so läuft, dass dann die Reaktionen auch durchaus langsamer erfolgen, ne. Das haben wir bei Martin anders erlebt, dadurch, dass du dich ja sehr fokussiert hast, äh, war die Wechselseitigkeit doch recht zügig vorhanden. Du musstest jetzt nicht mehrere Sekunden oder gar Minuten, wie ich das bei manchen Klienten hab, über die Antwort nachdenken.

Martin Koliwer: Das ist halt ein gutes Beispiel wieder dafür, was wir ganz am Anfang hatten, womit wir einen guten Kreis schließen können: Ähm, manchen Leuten merkt man’s tatsächlich einfach nicht direkt an, wenn man nicht weiß, worauf man achten muss.

Marco Tiede: Ja. Eben. Und dann, darf es auch gern so hingenommen werden, falls es doch mal anders sein sollte und das nicht als Provokation aufzufassen. Es ist keine Provokation. Es ist einfach nur ein sehr unterschiedliches Fähigkeiten-Profil. Wenn dann die Schwierigkeiten auftauchen, dann ist das nicht, weil jemand sich nen Jux daraus machen will:  Hä, jetzt verarsche ich den mal! Selten ist das der Fall.

Mirjam Rosentreter: Also, Martin, ich wünsche dir viel Erfolg für die Wohnungsübergabe heute Mittag noch.

Martin Koliwer: Dankeschön.

Marco Tiede: Ja.

Mirjam Rosentreter: Was nimmst du da für ne Maske mit? Nimmst du da eine besondere mit hin?

Martin Koliwer: (atmet schwer aus) Nö, wahrscheinlich nicht, also, äh, wie gesagt, das wird einfach nur ein: Ich versuche das möglichst professionell und möglichst schnell über die Bühne zu bringen.

Mirjam Rosentreter: Du kennst deine Rechte.

Martin Koliwer: (schmunzelt) So in der Richtung.

Marco Tiede: Ja, ich sag auch Tschüss und setz jetzt nicht noch was nach. (schmunzelt)

Mirjam Rosentreter: (schmunzelt) Dann, vielen Dank für heute, und ich freu mich auf unseren nächsten Podcast zusammen. Tschüss!

Marco Tiede: Tschüss!

Martin Koliwer: Tschö!

Outro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Das war Spektakulär – Eltern erkunden Autismus

Mirjam Rosentreter: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de

Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Club Bremen.

Musik-Ende

Sprecher: Gefördert durch die Aktion Mensch

Infos zum Podcast

Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus zeigt Autismus in all seinen Facetten. Die Hosts haben beide selbst Kinder im Autismus-Spektrum. Mirjam Rosentreter (Journalistin) und Marco Tiede (Autismus-Therapeut) fragen Autistinnen und Autisten:

Wie ist es Du zu sein? Wie war es für dich, erwachsen zu werden? Was ist dir wichtig? Was sind deine Pläne für die Zukunft? Und was ist dein Appell an die Welt?

Außerdem erzählen anerkannte Fachleute, wie sie täglich mit Autistinnen und Autisten arbeiten. Sonderfolgen tauchen tief in den Alltag von Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus-Spektrum ein.

Zum Gast in dieser Folge:

Martin Koliwer studiert Kulturwissenschaften und arbeitet als Grabungshelfer bei archäolologischen Projekten. Seine Autismus-Diagnose erhielt er mit 16 Jahren.

Die Gastgeber:

Mirjam Rosentreter ist Journalistin. Sie hat Sprachwissenschaft und Politik studiert. Danach machte sie im NDR ein Volontariat und arbeitete für die ARD als Hörfunk-Autorin. Im Martinsclub Bremen moderiert sie mit Marco Tiede eine Gesprächsgruppe für Eltern autistischer Kinder. Im Podcast Spektrakulär ist Mirjam Gastgeberin in ihrem Studio und die Fragestellerin. Und sie begleitet als Reporterin Menschen zur Arbeit und in der Freizeit.

Marco Tiede ist Therapeut und Berater zu Autismus-Themen und Krisen-Intervention. Er hat fachliche und persönliche Erfahrung mit Autismus als Vater, Schulbegleiter, Therapeut und Dozent. Das macht ihn zu einem sehr praxiserfahrenen Co-Host für den Podcast Spektrakulär. Hier nimmt er sich mit unseren Gesprächsgästen die Zeit, Fragen tiefgehend zu beantworten.

Quellen

Ludger Tebartz van Elst: Von Strukturen, Problemen und Zuständen – Ein heuristisches Modell zur Klärung von Therapiezielen. In: Ludger Tebartz van Elst (Hrsg.): Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Berlin 2021, S. 293ff. 

Hinweis: für Links zu externen Online-Seiten übernehmen wir inhaltlich und technisch keine Gewähr!

Im Podcast erwähnter ZEIT-Artikel: https://www.zeit.de/zett/2020-07/masking-menschen-im-autismus-spektrum-erzaehlen-vom-stress-sich-im-alltag-anpassen-zu-muessen

Musikintro und -outro

Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music

Nach oben scrollen