Junge Frau hinter Mikrofon und vor Bücherwand

Folge 1 als Kurzpod

„Es gibt Dinge, die dringend nach außen müssen“

Erscheinungstermin 19.12.2023

Intro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter (Moderatorin/Host 1): Herzlich Willkommen zur Kurzversion unseres Podcasts aus dem Martinsclub Bremen. Dies ist unser Angebot für alle, die wenig Zeit haben oder unsere Gespräche in voller Länge lieber zu einem anderen Zeitpunkt hören oder lesen wollen. Mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin und mache den Podcast Spektrakulär zusammen mit dem Autismus-Therapeuten Marco Tiede. Wir haben beide selbst autistische Kinder und moderieren gemeinsam auch den Autismus- Elternkreis im Martinsclub. Im Podcast geben Angehörige, Fachkräfte und vor allem Autistinnen und Autisten ihre Erfahrungen weiter. Wenn ihr Kurzpod Spektrakulär anklickt, hört ihr immer die Zusammenfassung einer Gesprächsfolge.

Sprecherin: Heute mit Bianca Bräulich, Sozialarbeiterin, Dozentin, Autistin.

Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)

Einstieg

Mirjam Rosentreter (Moderatorin/Host 1): Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich nicht gut einschlafen konnte, weil ich total aufgeregt war. Das war das 10-Jahres-Treffen unseres Elternkreises 2019, und wir haben zum 10-Jahres-Fest Gäste dabei gehabt. Und das war Bianca, unser Gast heute. Die kam da rein so wie heute, ne junge Frau Mitte 20, Dreadlocks, und alle Eltern: Boah, eine echte Autistin!

Bianca Bräulich (Gast): (lacht) Zum Anfassen!

Marco Tiede (Co-Moderator/Co-Host): (lacht)

Mirjam Rosentreter: Du bist inzwischen 29, hast dein Studium abgeschlossen…

Bianca Bräulich: Ja.

Mirjam Rosentreter: …Soziale Arbeit studiert und danach ein Anerkennungsjahr im Autismus Therapiezentrum gemacht, das du jetzt auch fast schon abgeschlossen hast…

Bianca Bräulich: Ja, die Hälfte, weil ich mach jetzt 2 Jahre, da ich stundenreduziert arbeite.

Mirjam Rosentreter: Was machst du, wenn du einen deiner jungen Klienten da begrüßt und zum ersten Mal in das Behandlungszimmer führst – ich weiß nicht, ob ihre das so nennt.

Bianca Bräulich: Erstmal auf alles, also gerade beim ersten Kontakt. Auf die Körperhaltung, das Gesicht, die Interaktion zwischen Eltern und Kind, die Anspannung, die vielleicht da ist oder auch nicht, wie sind die Schwingungen zwischen mir und dem Klienten und was spüre ich einfach von seiner Seite aus an Emotionen in dem Moment.

Mirjam Rosentreter: Als ich gedacht habe, ich hätte Lust, mit Marco zusammen einen Podcast zu machen, habe ich gedacht: Ich würde so gerne Eltern die Möglichkeit bieten, mit Autistinnen und Autisten in Kontakt zu kommen und einmal die ganzen Themen, die uns im Elternkreis betreffen zu vertiefen mit Menschen, die die Innensicht haben und uns vielleicht ein bisschen korrigieren können.

Bianca Bräulich: Das ist ein guter Ansatz würde ich sagen.

Mirjam Rosentreter: Der Elternkreis ist eine Elternselbsthilfegruppe, die inzwischen von uns beiden, also von Marco und von mir moderiert wird. Und wir treffen uns 8 mal im Jahr. Weißt du noch, was dein Wunsch war? Was wolltest du damit erreichen?

Marco Tiede: Ich hatte schon in meiner Schulbegleiterzeit das Gefühl, als ich meinen ersten Schüler begleitet hatte in der Grundschule, dass die Eltern sich oft alleingelassen fühlen und das auch vom Umfeld immer wieder so vermittelt bekommen: Du musst dein Kind nur mal richtig erziehen, du verziehst dein Kind. Bis hin zu: Das braucht noch nur mal eine Tracht Prügel, dann wird’s schon werden! So also dieser ständige Rechtfertigungsdruck, in den sich Eltern gedrängt fühlen. Dass sie da ein Stück weit auch rauskommen können und anhand der anderen Eltern sehen können: Nein, wir machen alles, was wir tun können für unser Kind und das heißt nicht, dass wir es nicht erziehen oder es verziehen oder dass wir schuld sind an seinem Zustand, an seinem Autismus.

Bianca Bräulich: Natürlich müssen auch autistische Kinder erzogen werden, das ist ganz klar. Aber Autismus entsteht nicht durch eine falsche Erziehung. Leider gibt es Eltern, die irgendwann wirklich so überfordert sind mit der Familiensituation, dass sie quasi aufgeben und wirklich – und damit meine ich nicht, eine ungesunde Art von Druck auf das Kind auszuüben – sondern wirklich keine keinerlei Grenzen mehr setzen, keine Strukturen mehr schaffen können und sich im Endeffekt alles im Alltag nur um das autistische Kind dreht. Und das ist natürlich etwas, das nicht die Schuld der Eltern ist, die einfach überfordert sind in dem Moment, was aber auf alle dann eine sehr negative Wirkung im Endeffekt haben kann.

Mirjam Rosentreter: Wie haben das deine Eltern hingekriegt, als du klein warst?

Bianca Bräulich: Also, ich bin meinen Eltern sehr dankbar. Sie haben sich wirklich gut geschlagen, gerade was meinen Autismus angeht. Weil meine Mutter hat sehr viel Engagement gezeigt und alles getan, was sie konnte. Aber es gab viele Zustände der Überforderung und ähm Reaktionen, die sich bei mir eingebrannt haben, die ich heute besser einordnen kann und die ich auch verziehen habe. Aber natürlich war es belastend trotz allem.

Mirjam Rosentreter: Das Besondere bei dir ist, dass du ja in den ersten 10 Jahren nicht gesprochen hast.

Bianca Bräulich: Ja.

Mirjam Rosentreter: Wie kann das sein? Also, wie kann das sein, dass du hier vor uns sitzt, mit uns sprichst, eloquent, humorvoll, warmherzig, einfühlsam – wie geht das?

Bianca Bräulich: Ja, wie geht das. Ich würde jetzt gern ein Rezept preisgeben. Bei mir war die Geschichte aber tatsächlich irgendwie ähm makaber lustig aber auch tragisch. Ich hab ja damals sehr früh in Grundschulzeiten auch unter anderem eine ADS-Diagnose erhalten. Und obwohl ich in keinster Weise hyperaktiv war, Ritalin sofort verschrieben bekommen. Das wurde damals noch gern und schnell gemacht. Und meine Eltern haben dann aber sehr schnell gemerkt, dass dieses Zeug mich noch seltsamer macht, als ich es ohnehin schon war. Und ich kann mich auch erinnern, dass ich mich nicht erinnert habe. Also, ich hatte Stunden meines Lebens, die ich völlig weggetreten war, an denen ich nicht wusste, was passiert ist und nur auf und ab getigert bin in der Wohnung. Und da haben meine Eltern von sich aus beschlossen nach ein paar Wochen, das Ritalin abzusetzen, ohne Absprache mit dem Arzt von heute auf morgen. Und das hat plötzlich dazu geführt, dass ich Diktat starten ich Menschen nach und nach viel klarer wahrgenommen habe. Also auf der völligen Unklarheit, auch Gesichtsblindheit, die ich massiv hatte – habe ich auch immer noch, aber nicht mehr so stark ausgeprägt – bin ich in einen Zustand von sehr viel mehr Klarheit gekommen und habe verstanden, das sind Mitmenschen, die haben was mit mir zu tun, die sind in irgendeiner Weise mit mir verknüpft und die haben das Potential, auf meine Bedürfnisse einzugehen.

Mirjam Rosentreter: Und weißt du noch, was dein erster Satz war?

Bianca Bräulich: Nein (schmunzelt), das weiß ich nicht mehr. Aber ich glaube, dass es bestimmt irgendwas ganz Alltägliches war, einfach plötzlich sowas wie: Kannst du mir mal die Milch geben? Bestimmt was in die Richtung. So als ob ich schon immer gesprochen hätte quasi.

Mirjam Rosentreter: Wie haben deine Eltern darauf reagiert?

Bianca Bräulich: Ich glaube, sie waren sehr verwundert und irritiert, aber andererseits – Ja, vielleicht waren sie sogar stolz, aber irgendwie dadurch, dass  sie ständig auch sehr negative Rückmeldungen Diktat starten der war irgendwie dadurch dass er ständig sehr negative Rückmeldungen der Lehrer bekommen haben, waren sie glaub ich auch nochmal auf ner anderen Ebene besorgt, weil weil es ihnen auch seltsam vorkam.

Zumal auch immer wieder geschildert wird, dass aufgrund der sehr heterogenen Fähigkeitsprofile von Leuten im Spektrum, das dann immer wieder fast als Provokation aufgefasst wird. Wenn also Menschen in einem bestimmten Bereich sehr gut was können und in anderen Bereichen eben nicht, dann denken die, du verarschst mich doch, du kannst doch das und das, dann musst du doch auch das und das können. Und dem ist eben nicht so. Das auch irgendwie immer mal wieder als gegeben hinzunehmen, dass das eben sehr unterschiedlich ist und dass die dann vorhandenen Nicht-Fähigkeiten eben keine Provokation sind. Ne, und ich könnt mir vorstellen, dass es dann zu ähnlichen Irritationen geführt hat von wegen: Wieso du kannst doch lesen und schreiben, wieso kannst du denn dann nicht alles andere auch?

Bianca Bräulich: Ja.

Marco Tiede: Dass das dann so schnell gleich gesetzt wird und dann gesagt wird, da musst du doch alles andere auch können, ist aber nicht so.

Bianca Bräulich: Ich wollt da auch nochmal einhaken, man muss schon auch differenzieren zwischen Alltagskompatibilität und Funktionalität und sprachlichen Fähigkeiten. Das ist halt das, was oft nicht stattfindet. Weil ich weiß zum Beispiel anhand meines Beispiels, meine sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten sind inzwischen sehr gut, aber ich bin echt wenig kompatibel oft und hab ein recht hohen Hilfebedarf. Und das geht vielen autistischen Menschen so.

Mirjam Rosentreter: Du bist ja hierhergekommen und hast erst mal gleich die Sonnenbrille aufgesetzt. Da habe ich gedacht, oh irgendwas hab ich nicht richtig gemacht, es ist zu hell. Wir sitzen ja hier unter dem Dachflächenfenster. Du hast ja oft einen Alltagsbegleiter bei dir oder heute hat Marco dich begleitet. Wie bewegst du dich durch die Welt? Also wo sind denn deine Einschränkungen?

Bianca Bräulich: Überall!

Mirjam Rosentreter: Oh.

Bianca Bräulich: Ich kann mich schwer komplett ohne Unterstützung von außen selbst strukturieren, obwohl ich eigentlich sehr gut darin bin, andere Menschen zu strukturieren, was dann auch wieder ein bisschen paradox wirkt. Das heißt, ich brauch eigentlich schon morgens Hilfe, um zu gucken: Wann steh ich auf? Was mache ich in welcher Reihenfolge? Wie treffe ich kleine Alltagsentscheidungen wie: Was esse ich jetzt? Was trinke ich jetzt? Wann muss ich los? Ähm, dann versagen die exekutiven Funktionen, und ich schaff‘s nicht, mich schnell genug anzuziehen…

Mirjam Rosentreter: Das sind die Automatismen, die der Körper so hat, um Sachen, die man sich vorgenommen hat, auch umzusetzen…

Bianca Bräulich: Genau, ja, ja. Dann gehe ich nach draußen und der Himmel ist zu hell und ich sehe nichts mehr. Dann muss ich meine Sonnenbrille aufsetzen, manchmal sehe ich immer noch nicht genug, dann brauche ich meinen Assistenten, der mich einhakt und zur Arbeit führt. Dann brauche ich jemanden, der mir sagt, heute steht dies und das und jenes an. Dann mache ich meine Therapien alleine (lacht), da habe ich auch keinerlei Probleme mit, da habe ich überhaupt keinen Einschränkungen. Dann werde ich in den Pausen weiterführend strukturiert. Es muss jemand gucken, dass ich was esse, dass ich  was trinke, dass ich nichts zu heißes esse und trinke weil ich das nicht wahrnehmen kann. Komme ich irgendwann nach Hause, dann habe ich meine soziale Energie für den Tag aufgebraucht, kann erst mal nicht mehr sozial interagieren. Dann muss ich irgendwie mich noch wenn’s geht im Haushalt beteiligen, braucht da aber auch wieder strukturelle Hilfen. Hmm, ja (lacht). Eigentlich, ja den ganzen Tag brauche ich Unterstützung.

Mirjam Rosentreter: Puh. Das, das das macht man sich gar nicht klar – das ist jetzt so ne Floskel, aber ich finde das passt ganz gut: ‚man‘, so Normalo.

Marco Tiede: Als Vermeintlicher, ja.

Thema Autonomie

Mirjam Rosentreter: Das ist ja ein totaler Kontrollverlust jeden Tag, oder?

Bianca Bräulich: Aber es ist ja noch das Beste, was momentan möglich ist. Die Alternative wäre ja eine stationäre Unterbringung und ein noch viel weniger autonomes Leben.

Marco Tiede: Insofern, andersrum gesehen ist das deine Normalität. Mit Unterstützung kannst du weitestgehend an diesem Leben, das die vermeintlich Normalen führen auch teilhaben, ne.

Bianca Bräulich: Mal mehr, mal weniger.

Marco Tiede: Ja, dann auch je nach Stressbelastung und Tagesverfassung. Auch das ist ja immer sehr unterschiedlich. Dass wir dann auch neben den unterschiedlichen Fähigkeitenprofilen ja oft nicht im Blick haben, dass die Tagesverfassungen auch sehr unterschiedlich sind. Dass wir dann nicht davon ausgehen können: Also gestern konntest du doch ganz normal zur Schule kommen oder zur Arbeit kommen, wieso kannst du es dann heute nicht? Wieso funktionierst du – in Anführungsstrichen – heute nicht wie sonst? Du kannst das doch!

Bianca Bräulich: Ja.

Marco Tiede: Ja, grundsätzlich schon, aber eben nicht verlässlich immer. Und das ist dann in dem Fall deine Normalität.

Bianca Bräulich: Ja. Und alles hängt ja auch von der Motivation ab, die man hat, und das ist dann auch keine Faulheit. Wenn man für etwas sehr viel, ein großes intrinsisches Motiv hat, dann fällt einem das leichter, dann kriegt man es besser hin, selbst wenn man sich noch so sehr anstrengt, auch Dinge hinzukriegen, für die man kein so großes Motiv hat. Es ist dann viel mehr Aufwand. 

Marco Tiede: Ja, und wie ich dich kennengelernt in unserer Arbeit und auch so wenn wie wir miteinander sprechen, hast du ja ne extrem hohe Motivation zu vielen Dingen, die dich ja auch eben zu deinem Leben, wie du es führen kannst, befähigt.

Bianca Bräulich: Ja.

Marco Tiede: Und das ist dann noch mal der Punkt, wo wir glaube ich auch noch mal drauf gucken müssen, dürfen, diese Motivation bei den Kindern zu erkennen und hervorzurufen, an die Oberfläche zu bringen, weil ohne Motivation passiert nicht viel.

Bianca Bräulich: Ja. Das ist die Antriebsfeder für eigentlich jeden Menschen, glaube ich…

Marco Tiede: Absolut.

Bianca Bräulich: …was wir an Motivation haben.

Mirjam Rosentreter: Wir freuen uns auf deinen nächsten Besuch.

Bianca Bräulich: Ja.

Mirjam Rosentreter: Macht’s gut für heute, tschüss.

Marco Tiede: Tschüss.

Outro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Das war Spektakulär – Eltern erkunden Autismus

Mirjam Rosentreter: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de

Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Club Bremen.

Musik-Ende

Sprecher: Gefördert durch die Aktion Mensch

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